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HANS-CHRISTIAN DANY, NAM JUNE PAIK, CALLA HENKEL Seen & Read – von Isabelle Graw

Die aktuelle Ausgabe von „Seen & Read“ führt uns von der Schuldgefühl-überschatteten Hamburger Kindheit und Jugend des Künstlers und Autors Hans-Christian Dany ins sonnige Florida, wo eine aktuelle Ausstellung Nam June Paiks Miami-Jahre mit zahlreichen flimmernden Bildschirmen beleuchtet. Vom dortigen Flughafen, wo Paiks Skulptur TV Miami leider schon vor langer Zeit abgebaut wurde, geht es via Reisebuchhandlung auf einen rasanten Abstecher in die Spannungskurven von Calla Henkels Thriller Scrap.

Hans-Christian Dany, Schuld war mein Hobby: Bilanz einer Familie

The author’s father and son / Vater und Sohn des Autors, 2011

The author’s father and son / Vater und Sohn des Autors, 2011

Speziell Hamburger*innen (wie mir) sind die Umstände dieses „Schuldbuchs“ vertraut: Der Autor schildert seine Herkunft aus einer Kaufmannsfamilie und erwähnt dabei beiläufig typische Hamburger Institutionen wie das Bekleidungsgeschäft Ladage & Oelke. Der Fokus des Buchs liegt auf der Figur des Vaters – eines imposanten Geschäftsmanns, der jedoch regelmäßig seine Angestellten anbrüllt und über seine Verhältnisse lebt. Nach seinem Tod hinterlässt er einen Schuldenberg, den Dany Junior abzubauen versucht. Dass Schuldgefühle und Geldschulden ineinandergreifen können, wird in diesem Zusammenhang überzeugend ausgeführt. Wie schon Franz Kafka in seinem Brief an den Vater macht auch Dany dem Vater keine Vorwürfe, beschreibt jedoch, wie er dessen Ansprüchen auf keiner Ebene genügen konnte und sich deshalb immer schuldig fühlte. Auch für den Selbstmord seines psychisch kranken Bruders fühlt er sich mitverantwortlich, obwohl er im Grunde weiß, dass dieser – der um seinen Pflichtteil vom Erbe stritt und seine Mutter verklagte – nicht zu retten war. Danys Buch belegt einmal mehr, dass sich die Dysfunktionalität von Familien durch den Tod eines Familienmitglieds nicht auflöst, sondern zunimmt. Auch der Prozess des Schreibens wird vom Autor reflektiert und als ein Prozess charakterisiert, bei dem man häufig nicht nur in der Schuld von Auftraggeber*innen steht, sondern auch dem Text selbst etwas schuldet. Einige der von Dany gewählten Formulierungen wirken etwas eigenwillig und schräg; als Leserin hätte man dem Buch ein strengeres Lektorat gewünscht.

Edition Nautilus, 2024, 128 Seiten.

„Nam June Paik: The Miami Years“

Nam June Paik in Miami, 1990

Nam June Paik in Miami, 1990

Diese Ausstellung richtet den Fokus auf eine bislang relativ unerforschte Episode in Nam June Paiks Leben und Werk: Von 1988 bis zu seinem Tod im Jahr 2006 lebte Paik in einem Apartment in Miami Beach, da ihm New York zu anstrengend geworden war und er das wärmere Klima Floridas vorzog. Die Ausstellung dokumentiert seine Präsenz in der Kunstszene Miamis und seine Teilnahme an zahlreichen Ausstellungen. Paik-Klassiker, wie seine Arbeit TV Cello (2003) oder Variationen seiner Roboterskulpturen, werden ebenfalls präsentiert. Das Kernstück bildet jedoch die 1985 in Auftrag gegebene Skulptur TV Miami (1990), die für den Miami International Airport geplant war: eine Art elektronischer Fries, bestehend aus 76 flackernden Bildschirmen, die das Wort „Miami“ formen und die Buchstaben von innen heraus animieren. Die Monitore zeigen typische Bilder aus South Florida, die die Besucher*innen auf ihren Aufenthalt in der Region einstimmen wollen. Die vertikal ausgerichteten Lettern lassen sich auch als visuelle Entsprechungen der brutalen Investorenarchitektur Miamis lesen, die eine dichte Ansammlung unsensibel in den städtischen Raum gesetzter Hochhäuser kennzeichnet. Leider ist Paiks Arbeit im Foyer des Flughafens schnell wieder abgebaut worden, was angesichts ihres Witzes und ihrer ortsspezifischen Kraft schwer verständlich bleibt.

The Bass Museum of Art, Miami Beach, 4. Oktober 2023 bis 11. August 2024.

Calla Henkel, Scrap

Obwohl ich kein Fan von Thrillern bin, kann ich dieses Buch uneingeschränkt auch anderen diesem Genre eher weniger zugeneigten Leser*innen empfehlen, denn die Autorin nutzt es für ebenso scharfsinnige wie witzige gesellschaftskritische Beobachtungen. Man liest den Pageturner in einem Rutsch – trotz des beträchtlichen Umfangs scheint er wie für den Airport-Bookstore gemacht. Seine Heldin erhält während eines öden Galeriedinners von einer reichen Sammlerin den geheimen Auftrag, für den Geburtstag ihres Mannes Scrapbooks mit Fotos und persönlichen Dokumenten anzufertigen. Die Beschreibung des Dinners ist auch mit Blick auf andere Abendveranstaltungen dieser Art extrem treffend und unterhaltsam: Der Platz neben der ausstellenden Künstlerin scheint zunächst frei, doch als die Protagonistin Esther ihn ansteuern will, wird er von der Galeristin in Anspruch genommen. Esther hingegen findet sich am Katzentisch wieder und überlegt kurz, ob sie angesichts ihrer wenig inspirierenden Tischnachbar*innen, die ihrerseits Fluchtgedanken hegen, einfach aufstehen und gehen soll. Schon diese jedem Kunstbetriebsmitglied bekannte Situation ist brillant wiedergegeben. Der Fortgang der Geschichte entfaltet sich in überraschenden Wendungen und thrillertypischen Steigerungen: Auf eine schmerzhafte Trennung und ständige Identitätswechsel der Protagonistin folgen illegale Aufenthalte in einer Residenz in den Hamptons, Gefängnisbesuche, ein Überfall und die tödliche Krankheit des Vaters. Noch dazu stellt sich heraus, dass ihre Mutter nicht wie offiziell erklärt bei einem Autounfall ums Leben kam, sondern nach der Amputation ihrer Beine nicht mehr leben wollte. Am Ende fliegt Esther im Privatjet auf die Malediven. Sie ist in die Identität ihrer ebenfalls inzwischen toten Auftraggeberin geschlüpft und hat jetzt ein Baby.

Sceptre, 2024, 320 Seiten.

Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021) und Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022).

Image credit: 1. Photo Rob Kulisek; 2. Courtesy of Hans-Christian Dany, photo Hans-Christian Dany; 3. Courtesy of The Bass Museum of Art, photo Brian Smith; 4. Courtesy of Calla Henkel