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MARIE DARRIEUSSECQ, AMELIE VON WULFFEN, ISABELLE LAFON Seen & Read – von Isabelle Graw

Wollte man eine Verbindungslinie ziehen zwischen den kulturellen Gegenständen und Produktionen, die unsere Herausgeberin Isabelle Graw diese Woche in der Rubrik „Seen & Read“ hervorhebt, wäre es vielleicht die, dass sich alle drei mit Lebenswelten von Frauen befassen: Während Marie Darrieussecqs neuer Roman die autobiografischen Rückblicke ihrer beiden Protagonistinnen gegenüberstellt, setzt Amelie von Wulffen in ihrer aktuellen Berliner Ausstellung nicht zuletzt die eigene Perspektive auf ihr direktes Umfeld malerisch um. Isabelle Lafon bringt indes ein diskursives Kammerspiel auf die Bühne, dass die Kommunikationsformen einer Frauen-WG subtil beleuchtet.

MARIE DARRIEUSSECQ, FABRIQUER UNE FEMME

Marie Darrieussecq

Marie Darrieussecq

In diesem Roman wird die Macht der Projektion anschaulich gemacht. Zwei junge Frauen aus der französischen Provinz – Rose und Solange – sind eng miteinander befreundet. Sie wachsen zwar gemeinsam in Clèves auf, aber ihr Leben verläuft später in unterschiedlichen Bahnen: Solange wird mit 15 ungewollt schwanger und lässt das Kind bei ihrer Mutter zurück, um in Paris ihr Glück als Schauspielerin zu versuchen. Rose geht sehr früh eine feste Beziehung zu Christian ein, mit dem Solange zuvor ein Techtelmechtel hatte. Beide Frauen – in der ersten Hälfte des Buches kommt Rose zu Wort und in der zweiten Solange – sind der Überzeugung, dass es die andere besser getroffen hat. Während Rose ihr Leben als langweilig empfindet und an ihrer Liebe zu Christian zweifelt, hat Solange aus ihrer Sicht den aufregenden Lifestyle einer ständig reisenden Celebrity. In Wahrheit betrinkt sich Solange jedoch jeden Abend im Bain Douches und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Solange wiederum beneidet Rose um deren coole Eltern und um die vermeintlich stabile Beziehung zu Christian. Es gelingt Marie Darrieussecq, die große Kluft zwischen Projektion und Wirklichkeit sehr überzeugend aufzuzeigen. Die Einsicht der Psychoanalytikerin Melanie Klein, dass unsere Wahrnehmung der Anderen von Fantasien durchquert ist, wird von diesem Buch zugespitzt und bestätigt. Formal interessant ist zudem die von der Autorin gewählte Erzählperspektive: Die Protagonistinnen kommentieren ihr Verhalten in den 1990er Jahren aus heutiger Perspektive. Das Wissen darum, was früher möglich war und heute nicht mehr geht, erweitert ihre persönlichen Berichte um eine historiografische Dimension.

Éditions P.O.L, 2024, 329 Seiten

„Amelie von Wulffen: I Think We Did A Great Job“

Amelie von Wulffen, “Atelier Aussicht vorne,” 2023

Amelie von Wulffen, “Atelier Aussicht vorne,” 2023

Es gibt drei Dinge, die sich leitmotivisch durch diese herrlich grobschlächtig gemalten und dicht gehängten neuen Bilder von Amelie von Wulffen ziehen: die Farbe Braun, der Topos des „Bildes im Bild“ sowie das Motiv des Paravents. Mithilfe von wie „aufgeschmiert“ wirkenden Braun- und Beigetönen wird nicht nur an den Ursprung der Pigmente – die Erde – erinnert und eine skatologische Dimension heraufbeschworen. Braun gemalte Figuren in bräunlichen Interieurs (wie etwa bei o.T., 2023) fungieren vielmehr als malerisches Idiom für traumatische Erinnerungsbilder. Der von der Künstlerin verfasste und in literarischer Hinsicht sehr gelungene Begleittext zur Ausstellung suggeriert jedenfalls, dass in diesen Arbeiten sowohl schmutzige Familiengeheimnisse als auch aktuelle Lebensbedingungen verhandelt werden. Mein Lieblingsbild der Roman (2024) mit munchhaft gemaltem „hässlichem Kind“ samt herumliegenden Fix und Foxi-Heften im Stil der Pop Art lässt am speziellen Horror dieses deutschen Wohnzimmers keinen Zweifel. Ein farbig bemalter Paravent mit Schleife zieht sich wie ein roter Faden durch mehrere Gemäldehindurch, so als wolle von Wulffen das düstere Geschehen mithilfe ihrer Bildrhetorik bändigen. Omnipräsent ist, wie bereits angedeutet, das „Bild im Bild“-Thema, wobei die schweren Rahmen der in einige ihrer Bilder hineingemalten Gemälde an Erbstücke oder „Thrift Store Paintings“ erinnern. Besonders gelungen fand ich, wie von Wulffen männliche Malerheroen aufruft, etwa in dem rotbräunlich-schwarzen Figurenporträt I Think We Did A Great Job (2024): Francisco de Goya, Odilon Redon und Eugène Delacroix sind hier mit Mikrofon in der Hand dargestellt, so als solle dem Zwang zur Selbstvermarktung und der besonderen Kompetenz männlicher Künstler auf diesem Gebiet ein Denkmal gesetzt werden. Von Wulffens eigene Arbeitssituation ist ein weiterer thematischer Schwerpunkt dieser Schau: Atelier Aussicht vorne (2023), das ein altes Haus im berlintypischen Beige samt dahinterliegendem weißem Neubau zeigt, kommt einer bedrängenden Psychokulisse gleich. Auch von Wulffens malerisches Interesse für die Schaufensterdekorationen ihres Bezirks (in Berlin-Weißensee) führt zu schrägen Stillleben (Dessousladen Gustav-Adolf, 2023) oder zu nofreteteartigen bunten Dekoköpfen vor Ostberliner Fassaden (Friseur Langhansstraße, 2023).

Galerie Barbara Weiss, Berlin, 9. März bis 13. April 2024

ISABELLE LAFON, CAVALIÈRES

Isabelle Lafon, “Cavalières,” Théâtre national de la Colline, Paris, 2024

Isabelle Lafon, “Cavalières,” Théâtre national de la Colline, Paris, 2024

Vier Frauen – Sarah Brannens, Karyll Elgrichi, Johanna Korthals Altes und Isabelle Lafon – stehen auf der Bühne und sprechen ununterbrochen miteinander. Ihr atemloser Diskurs erinnert an die Inszenierungen des jüngst verstorbenen René Pollesch. Was diese Frauen miteinander verbindet, ist ihre Vorliebe fürs Reiten: So wie sie als Reiterinnen (Cavalières) ihre Pferde nicht immer unter Kontrolle haben, entgleitet ihnen zuweilen auch ihr Leben. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunftsmilieus leben sie in einer auf der Bühne unsichtbar bleibenden Wohnung zusammen. Dort betreuen sie abwechselnd das (ebenfalls abwesend bleibende) Kind der Wohnungsbesitzerin (gespielt von der Regisseurin Isabelle Lafon). Jede der fünf Frauen ist aus unterschiedlichen Gründen hier gelandet – zum Beispiel nach einer gescheiterten Liebesbeziehung oder einem längeren Auslandsaufenthalt. Als Mitbewohnerinnen erzählen sie sich nicht nur Bruchstücke aus ihrem Leben, sondern thematisieren auch ihr Verhältnis zueinander. Der Fokus liegt dabei auf den Konflikten, die das Zusammenleben in Gruppen, respektive in Frauengruppen, mit sich bringt. Doch statt Probleme unmittelbar anzusprechen, optieren diese Frauen für die schriftliche Kommunikation: Sie schicken sich Briefe und Notizen, die auf der Bühne verlesen und symbolisch „abgeschickt“ werden. Als besonders gelungen empfand ich das metareflexive Bestehen der Regisseurin darauf, dass Geschichten nicht zu Ende erzählt werden müssen. Es ist diese Zurückhaltung, die dem Stück guttut: Statt seine Protagonistinnen ihr „wahres“ Leben erzählen zu lassen, werden hier Beziehungsdynamiken und Kommunikationsformen verhandelt.

Théâtre national de la Colline, Paris, 5. bis 31. März 2024

Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021) und Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022).

Image credit: 1. Rob Kulisek; 2. © Charles Freger / Éditons P.O.L; 3. Courtesy Amelie von Wulffen und Galerie Barbara Weiss; 4. © Laurent Schneegans