Annika Bender über Helena Huneke in der Halle für Kunst, Lüneburg Not in Proper Terms
Die Ausstellung zu Helena Huneke funktioniert nicht. Alles ist kaputt, oder vorbei. Ich muss vorweg schicken, dass ich die Lüneburger Retrospektive als Zuspätgekommene besuche. 2005 kam ich nach Hamburg, da verließ Huneke die Stadt gerade Richtung Berlin. Ihrem Werk, wie es vor ihrem Tod erschien, kann ich überhaupt nicht gerecht werden. Und es war ein anderes Werk zu Lebzeiten, keine Frage. Doch es scheint im Fall von Huneke einen besonders harten Kontrast abzugeben und die Ausstellung in Lüneburg auch Teil einer Suche nach Antwort auf die Frage zu sein, warum das so ist.
Hierzu mag das geweißte Backsteingemäuer der Halle für Kunst mit seiner klammen Atmosphäre der Ausstellung zunächst die passende Kleidung reichen: irgendetwas in die Richtung Second-Hand-Mantel mit beigem Kunstfellfutter und fleckigem Wildleder. Ein wenig erinnert der Ort auch an eine Kellergalerie in St. Pauli, wie es sie heute noch gibt. Nur heißen sie anders als die, in denen Huneke in den Neunzigern ausstellte. Das Pendant zum White Cube dort ist der verwaiste Partykeller, die Garage, das hastig aufgeräumte Atelier. Doch die Aschenbecher, Bierflaschen und Kaffeeflecken fehlen in Lüneburg, tauchen lediglich in Spuren auf, imprägniert in jenen Objekten, die man aus Hunekes Nachlass zusammengetragen hat. Im Raum geordnet stehen jetzt Skulpturen und Vitrinen mit Collagen, an den Wänden hängen gerahmte Zeichnungen und größere Assemblagen. Es ist ein guter Raum für Huneke, doch sehr wahrscheinlich hätte sie selbst hier eine andere Schau gemacht, wie sollte es anders sein. Ordnung war nicht ihre Sache und die Arbeiten erscheinen eigenartig fremd darin.
Aus einem anderen Grund noch erscheinen sie fremd, und er mag sich vor allem aus der Gegenwart ergeben, die hier auf Artefakte blickt. Es ist 2015 und all das geklebte, geleimte, fleckige, unfertige und scheinbar hastig zusammengenagelte Zeug wirkt, als käme es aus einem anderen Jahrhundert (und in Teilen tut es das ja auch). Es ist eine Kunst, wie sie so nicht mehr auftaucht in den Etablissements der Gegenwartskunst. Dabei sind es lediglich eine Handvoll Jahre, die sie von Hunekes Produktionszeit trennen. Es ist ein Diskurs des Prozesses, des Ephemeren, es sind die neunziger Jahre, die in Lüneburg aufgebahrt werden. Und es ist nicht nur Huneke, die der Welt abhandenkam, als sie sich 2012 das Leben nahm. Es ist auch eine Art der Produktion, ein ganzes künstlerisches Alphabet, das in den vergangenen Jahren offenbar in den Ordner der Geschichte gewandert ist.
Doch für Geschichte wurde erstaunlich viel geredet und gemunkelt im Vorfeld der Schau, nicht nur in Hamburg. Die Präsenz der Künstlerin Huneke schien nachzuhallen in erwartungsvollen Gesichtern. Ein Freund rief mich an, halb Berlin würde über die Ausstellung sprechen. Das war vor ihrem Beginn. Drei Wochen nach Eröffnung fuhr ich nach Berlin und niemand sprach über die Retrospektive. Vielleicht, weil sie doch niemand gesehen hatte, vielleicht auch, weil sie so überdeutlich macht, dass sich hier etwas ästhetisch nicht mehr zusammen- und übersetzen lässt. Oder schwerlich nur. Zumindest für Zuspätgekommene wie mich.
Natürlich ist es auch das, was Hunekes Arbeiten immer schon verweigert haben: Was sie zusammenleimte, wirkte nie, als sei es auf Dauer gesetzt, als habe sich hier etwas von Zauberhand zusammengefügt. „Voyeuse“ heißt ein Objekt von 1995, ein modifizierter Stuhl, der jetzt in Lüneburg steht und wirkt, als habe sich seine Lehne an der Stelle zum Gewächs verselbstständigt, wo sie eine Holzkonstruktion aus kurzen per Gelenk verbundenen Lattenstücken ersetzt. Mit angestoßenen Beinen und zerrissenem Sitzpolster erscheint der Stuhl auch mehr malträtiert als bearbeitet – als sei mit ihm nicht etwas vollendet, sondern angegriffen worden. Es ist eine Ästhetik, die den Prozess, die nicht das Gemachte, sondern das Machen zum Sprechen bringen will. Eine Ästhetik, die noch einmal aufs Ganze, nämlich auf die Grenzlinie zwischen Kunst und Leben zielt: für die das Atelier zur Galerie, die Galerie zum Atelier, das Interieur zur Installation und die Künstlerwohnung zum Caféhaus werden konnte.
Die neunziger Jahre: Als Huneke in ihrer Hamburger Wohnung Künstlerfreunde bewirtet und ihren Salon de Thé betreibt, hat Rirkrit Tiravanija gerade seine ersten Ausstellungen in Deutschland. Etwa zur gleichen Zeit etabliert sich im Umfeld der Berliner Galerie Neugerriemschneider mit Künstlern wie Jorge Pardo und Tobias Rehberger noch eine andere Form der Relationalen Ästhetik. Auch bei ihr verschwimmen die Grenzen zwischen Interieur und Installation, erfüllt sich die Kunst vermehrt im Zusammenspiel zwischen Ereignis und Objekt. Doch Pardo und Rehberger führen noch einen parallelen Diskurs, sofern sich ihre Objekte auch immer an der Schnittstelle zum Design bewegen. Das macht sie von Anbeginn attraktiver – als Objekte wohlgemerkt. Als Hinsteller, nicht als Problemsteller. Huneke hatte zwar Produktdesign studiert, bevor sie zur Kunst wechselte, ihr Interesse an den Objekten des Alltags gleicht jedoch eher einer aufgekratzten Suche nach der in ihnen eingeschriebenen Wirklichkeit des Sozialen, als einem am Entwurf derselben auf der Ebene von Design und Designgeschichte. Es ist eine Suche, die jeder Antwort immer schon misstraut. Ihre Arbeiten haben darin oft etwas zermürbend Schleifenartiges.
Selbst wenn Huneke, wie im „Milchkännchen-Projekt“ von 1994, mit verschiedenen Porzellankännchen eindeutig als solche klassifizierbare Designprodukte für Doppelbelichtungen in Szene setzt, scheinen sich die unsauber an die welligen Fotografien gepappten Textzeilen sogleich dem Eindruck zu verwehren, die darin dokumentierten Befragungen hinsichtlich der Symbolik von Kännchenformen könnten selbst in formal abgerundeten Ergebnissen münden. Alles bleibt Studie, alles bleibt Fragment. „Ich kann was ich mache nicht mal sehen“, heißt es auf einem Papier Hunekes, das 2004 im Hamburger Kunstverein ausgerechnet Teil der Ausstellung „Formalismus. Moderne Kunst, heute“ ist.
Rückblickend nimmt es nicht wunder, dass sich der institutionelle Erfolg des Prozessdiskurses der Neunziger eher bei jenen einstellte, die es verstanden, ihn in hochwertige oder ungewöhnliche Materialien und ebenso ansprechende wie abgeschlossene Formen zu gießen: Make it sexy! Wir können einen ganz ähnlichen Ablauf gerade bei der sogenannten Post-Internet-Art beobachten und kennen das Ende längst: Das Machen wird Machenlassen, die Künstlerkollabo Assistentenarmada, das ästhetische Problem gestalterische Herausforderung. Es mag gute Gründe geben, die mit diesem Weg einhergehende Entmythologisierung der Künstlerfigur als etwas Progressives einzustufen. Der Künstler ist kein Auserwählter mehr, ist kaum mehr noch als Art Director seiner eigenen Marke; der ganzen pathetischen Selbstzweifel- und Einsamkeitsnummer hat man sich schlechterdings entledigt.
Bei Huneke erscheint sie noch wie selbstverständlich als Teil der künstlerischen Profession. Manch unbedarften Betrachter/innen mag in Lüneburg durchaus der Gedanke beschleichen, mit einer Auswahl sehr persönlicher Erinnerungsstücke als mit ästhetischen Setzungen konfrontiert zu werden. So viele ihrer Arbeiten scheinen noch Atelier auszudünsten, und das war bei Huneke ganz offensichtlich keine großzügige Fabriketage, in der sich freundliche Assistenten tummeln, sondern ein permanenter Spiegel der eigenen Abgeschiedenheit. Gleichwohl trifft man in ihrem Hamburger Umfeld auf zahlreiche ähnlich arbeitende Künstler/innen wie Claus Becker oder Nele Budelmann. Bei allen wirken fragile Objekte, arrangierte Ensembles und Kritzeleien mehr wie die Folge einer zufälligen Fusion von Gebrauchtem, Liegengelassenem, Wiedergefundenem und der poetischen Langeweile einer einsam durchzechten Nacht im Atelier. Eine konzeptuelle Konzeptlosigkeit.
So ähnlich sie sich sind, so sehr unterscheiden sich Hunekes Objekte jedoch auch von dieser Hamburger Spielart eines Prozessdiskurses. Wenn Claus Becker eine Szene aus Bleistiftskizzen, einem Weinglas und anderem Atelierbesteck mit einer Plastiktüte drapiert, dann wird durchaus noch der Eindruck einer souveränen Leichtigkeit erweckt, wie ja auch bei vielen jüngeren Zeitgenossen, nur dass deren Objekte heute gefertigt, lackiert und geputzt werden. Bei Huneke kommt dagegen eine Zerrissenheit ins Spiel, die jeder Leichtigkeit den Weg versperrt. Und man liest diese Zerrissenheit und Aggression nun retrospektiv auch in jene Arbeiten, die womöglich noch ganz unbeschwert zusammenfanden. In einer letzten Notiz vom Sommer 2012 deutet die Künstlerin es an: „Oh, könnte ich doch die Zeit zurückhohlen, als ich noch in der Ergotherapie ein wenig vertrocknetes Gestrüpp mit ein paar Resten Draht und Gummiband zusammenarrangierte, oder aus komisch verunglückten Aufbauformen einen schönen Aschenbecher machte. Da gab es noch ‚mich’ und meinen produktiven Widerstand.“
Widerstand aber hieß bei Huneke auch zerren, zerreißen, laute Wut. Und auch hier kennt ihre Generation eine (erfolgreichere) Parallelästhetik: das Bad Painting nämlich, das wie sie mit dem Kaputten, mit Defekt und Destruktion kokettiert. Man rufe sich die Malerei von André Butzer ins Gedächtnis, wie Huneke einst Mitglied der Akademie Isotrop. Doch gibt es bei seinen Arbeiten immer zugleich eine Distanz, die zwischen Künstler und Werk vermittelt. Ausschlaggebend ist nicht nur die rahmende Leinwand, es ist die anspielungsreiche Inszenierung des Kaputten und die Coolness, die diese Inszenierung dann repräsentiert. Deshalb fällt Butzer auch nicht aus der Gegenwart, deren wichtigstes künstlerisches Merkmal eben diese Distanz geworden ist. Bei Huneke aber passt kein Blatt zwischen Person und Praxis. „I don't want to focus on myself as if I were a second person who could take a more distant place. My work is not in proper terms“, heißt es in einem Künstlerstatement von 1999. Alles ist kaputt.
Es liegt eine sehr unzeitgemäße Kraft in dieser konsequenten Distanzlosigkeit, die einen noch heute zuweilen erschaudern lässt. So intim und nackt wirkt der in Lüneburg präsentierte Nachlass – eher wie das zerbrechliche Gerippe einer künstlerischen Position. Es ist keine Kunst die auftrumpft, sondern eine die sich wehrt und ihre Niederlage dabei trotzig in Kauf nimmt. Es bleibt eben zugleich Verhängnis ihrer Praxis, dass sie nicht trennen wollte: „Das Sonderbare ist, Angst zu haben! Helena, Du hast es doch nicht nötig! Sich zieren=schön tun, das ist herrlich! Das knüpft an meine Idee, dass das Unfertige, gewissermaßen Unschöne, eine Produktion kennzeichnet!“, schreibt sie 2011 in ihrem Blog, genauso unfertig und korrekturbefreit wie ihre Objekte. Dokumente einer verstummten Selbstbefragung. Hunekes Arbeit hatte eine Härte, die viele bewunderten. Aber sie richtete sie mit aller Konsequenz auch gegen sich selbst, stoppte nicht an der Schwelle von so etwas wie Privatleben. Leben=Praxis. Eine ihrer Ausstellungen in einem Projektraum in St. Pauli bestand 2005 aus nicht viel mehr als einem feucht tropfenden, modrig müffelnden Wischmopp. Den Hintergrund bildete ein ungelenk schnörkelhafter Schriftzug auf Raufasertapete – offenbar die Mutter der Künstlerin adressierend: „Sigrid Huneke geh pissen und verrecke in der Hölle.“
Ich denke nicht, dass es diese Form biografisch selbstverzehrender Distanzlosigkeit ist, die heute fehlt. Die eigentliche Leerstelle der Gegenwart präsentiert uns die Ausstellung in Lüneburg an anderer Stelle. Huneke praktizierte noch etwas, das vielen von uns Zuspätgekommenen abgeht: Sie nahm das Problem selbst ernster als die Strategie seiner ästhetischen Exemplifizierung. Dieses Verhältnis hat sich umgekehrt. Und seit meinem Besuch in Lüneburg sehe ich überall die Gitterstäbe der Coolness, die all die klug reflektierende und optisch überzeugende Kunst der jüngeren Generation umzäunt. Ich sehe sie zur gleichen Zeit in Berlin bei Yngve Holen (geb. 1982) in der Galerie Neu, in Köln bei Johannes Bendzulla (geb. 1984) in der Galerie Natalia Hug, in Hamburg bei Christiane Blattman (geb. 1983) in der Galerie Dorothea Schlueter. Selbst da, wo die Performance wieder verstärkt eine Unmittelbarkeit demonstrieren soll, bleibt den Problemen gegenüber eine eigenartige Abgeklärtheit. Selbst da, wo Künstler/innen ihr Umfeld thematisieren, selbst da, wo sie sich selbst in Szene setzen, behalten sie – im Spiel sozialer Medien bestens geschult – die Kontrolle. Das ist clever, aber ohne Risiko. Die Frage ist, ob es nicht etwas dazwischen geben kann, ja geben muss. Eine Distanz nämlich, die es Künstler/innen erlaubte, nicht sich, aber umso mehr dann doch die Kunst den Problemen auszuliefern – gegen die dominierenden ästhetischen Sicherheiten.
„Helena Huneke“, Halle für Kunst, Lüneburg, 28. März bis 17. Mai 2015.