BILDUNGSARBEIT GEGEN DISKRIMINIERUNG Birke Sturm im Gespräch mit Türkân Kanbıçak und Mirjam Wenzel über das Vermittlungsprogramm „AntiAnti – Museum Goes School“ des Jüdischen Museums Frankfurt
BIRKE STURM: Als Jüdisches Museum repräsentieren Sie jüdische Geschichte und Kultur. In letzter Zeit gab es vermehrt antisemitische Übergriffe in Deutschland. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund den Zusammenhang zwischen kultureller Bildung und politischer Arbeit im Museum?
MIRJAM WENZEL: Meiner Ansicht nach ist ein Jüdisches Museum natürlich ein politisches Museum. Als erstes jüdisches Museum der Bundesrepublik Deutschland wurden wir 1988 mit dem Auftrag eröffnet, jüdische Geschichte und Kultur an die nicht jüdische, deutsche Gesellschaft zu vermitteln. Damals als etwas, was es nicht mehr gibt, also sozusagen als Dokumentationszentrum. Diese Perspektive hat sich grundlegend geändert. Unsere Museumsarbeit heute geht von der jüdischen Gegenwart aus, und diese ist bedroht. Die Erfahrung von Diskriminierung und Gewalt ist Bestandteil jüdischen Lebens in der Diaspora, und als solches porträtieren wir es auch in unseren Ausstellungen. Vor diesem Hintergrund steht im Mittelpunkt unserer Bildungsarbeit die Frage: Wie wollen wir in einer diversen Gesellschaft zusammenleben? Diese Frage adressieren wir aus einer jüdischen Perspektive und vor dem Hintergrund der jüdischen Erfahrung. Sie ist heute relevanter denn je. Die zunehmende Gewalt sowie der Hass und die Hetze gegen alles, was als ,anders‘ oder als gesellschaftliche Minderheit wahrgenommen wird, unterstreichen die Relevanz jüdischer Museen in Europa und den USA, die die jüdische Erfahrung von Gewalt, Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung erzählen. Die Relevanz besteht darin, in zunehmend diversen Gesellschaften auf ein diversitätssensibles Verständnis füreinander hinzuwirken.
TÜRKÂN KANBIÇAK: Ich würde aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive sagen, dass wir Bildung ganzheitlich sehen. Im ganzheitlichen Verständnis ist Bildung immer etwas Politisches. Wir versuchen, intersektional zu arbeiten: Wir möchten ein Museum für alle in unserer Einwanderungsgesellschaft sein. Diese Einwanderungsgesellschaft ist divers, und damit bietet sie zahlreiche Chancen. Verschiedene Gruppen können sich begegnen und gemeinsam ein neues Miteinander entwickeln. Um die Kultur- und Bildungsschaffenden zu sensibilisieren, haben wir ein Symposium zur politischen Dimension kultureller Bildung in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung ins Leben gerufen, das im Rahmen unserer Wiedereröffnung stattfinden wird. Dabei geht es genau um diese Fragen: Wie schaffen wir es, ein Museum für alle zu sein? Wie kriegen wir mehr demokratische Partizipation? Es geht uns darum, alle Gruppen in der Gesellschaft mitzunehmen. Um sie zu erreichen, haben wir zielgruppenspezifische Bildungsprogramme.
STURM: Eines dieser zielgruppenspezifischen Bildungsprogramme ist AntiAnti – Museum Goes School, worin Sie Lerneinheiten zur Prävention von Rassismus und Extremismus anbieten. Könnten Sie das Programm kurz erläutern und auf die Vorgehensweise eingehen?
WENZEL: Ich würde gern zunächst auf den Namen des Programms eingehen, und zwar anhand eines Dokuments in unserer neuen Dauerausstellung. Es ist in dem Raum „Gegen den Judenhass“ zu sehen, in dem wir jüdische Formen der Gegenwehr gegen den Antisemitismus zeigen, der sich mit der antiklerikalen, europäischen Aufklärung – etwa in den Schriften von Voltaire und Fichte – herausbildet. Die Formen jüdischer Gegenwehr, die wir in diesem Raum zeigen, umfassen Selbstorganisation, Empowerment und Sport, aber auch beginnende Antisemitismusforschung, die ausschließlich von jüdischen Autor*innen unternommen wird. Hier ist ein Buch mit dem Cover AntiAnti zu sehen. Es handelt sich um eine Handreichung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, das den Mitgliedern Argumente und Diskussionsanleitungen gibt, wie man verbalen antisemitischen Angriffen begegnen sollte. Das Buch stammt aus dem Jahr 1932 – ein tragisches Dokument.
KANBIÇAK: Das kulturelle Bildungsprogramm AntiAnti richtet sich an Schüler*innen berufsbildender Schulen. Wir haben uns für diese Zielgruppe entschieden, weil berufsbildende Schulen unglaubliche Integrationsarbeit leisten, vielfältige Schulformen in sich vereinen und sich hier die Gesellschaft in ihrer gesamten Diversität wiederfindet. Hinzu kommt, dass berufsbildende Schulen in der Schullandschaft stiefmütterlich behandelt werden. Oft werden sie bei Förderungen einfach vergessen. Außerdem sind sie in ihren Curricula stark auf das Berufsfeld ausgerichtet, da kommt kulturelle Bildung wie Musik und darstellende Kunst häufig zu kurz. Das Bildungsprogramm umfasst sechs Module und erstreckt sich über ein halbes Jahr. Besonders ist, dass wir den Lernprozess umdrehen. Allgemein hat das Curriculum Inhalte, die den Schüler*innen aufgestülpt werden. Wir hingegen stellen die Lernenden in den Vordergrund der Auseinandersetzung. In einem Modul werden beispielsweise die jeweils eigenen Diskriminierungserfahrungen von Schüler*innen behandelt, weil wir in der bisherigen Arbeit gesehen haben, dass kognitive Zugänge allein nicht ausreichen; man kann die Schüler*innen nur emotional knacken. Auch ein Workshop zu monotheistischen Religionen wird angeboten, in dem die Schüler*innen selbst zu Expert*innen werden. Am Ende haben wir eine Abschlussfeier bei uns im Jüdischen Museum. Das ist eine große Würdigung: Wir zeigen selbst aufgenommene Handyvideos zur eigenen Stadtteilerkundung, von denen die besten prämiert und mit Einkaufsgutscheinen gewürdigt werden. Und wir essen gemeinsam. So haben wir sehr angenehme, witzige und schöne Momente.
WENZEL: Ich würde gern noch etwas ergänzen. Wir verstehen diese Programme als primärpräventive Bildung. Antisemitismus ist nicht ausschließlich Bestandteil extremistischer Einstellungen und Mobilisierungsstrategien. Antisemitismus ist, wie Shulamit Volkov es formuliert, ein kultureller Code der europäisch-christlich geprägten Gesellschaft. Ein Erstarken des Antisemitismus, wie wir es im Moment erleben, passiert symptomatischerweise in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche. In ebensolchen Zeiten treten tradierte antisemitische Vorstellungen wieder zutage – etwa von einer Verschwörung übermächtiger Jüd*innen, die im Geheimen die Welt steuern und Geschicke zu ihren Gunsten ändern. Es sind also nicht unbedingt extremistische Randgruppen, die diese Vorstellungen hegen; sie gehören vielmehr zu einem Code, der von vielen verstanden wird, weil er intrinsischer Bestandteil der christlich geprägten Gesellschaft ist. Dieser Code ist nicht immer explizit, er beinhaltet auch Deckwörter wie etwa „Globalisten“, die als Chiffre für Jüd*innen verstanden werden. In unserer Bildungsarbeit adressieren wir Antisemitismus nicht isoliert von anderen Vorurteilen und feindlichen Einstellungen gegen alles, was als ‚anders‘ wahrgenommen wird. Wir folgen vielmehr Adornos Überzeugung, dass „Erziehung nach Auschwitz“ eine Erziehung zur Selbstreflexion sein, also zum Nachdenken über die eigenen stereotypen und herabwürdigenden Wahrnehmungsmuster führen muss.
STURM: Frau Kanbıçak, Sie haben angesprochen, dass in AntiAnti verschiedene Religionen thematisiert werden. Dies gilt auch für die Ausstellung „Die weibliche Seite Gottes“, die derzeit in Ihrem Haus zu sehen ist. Inwiefern ist gerade die Thematisierung verschiedener Religionen Ihrer Ansicht nach für politische wie kulturelle Bildung wichtig?
KANBIÇAK: Mit der Thematisierung verschiedener Religionen wollen wir Differenzkonstruktionen entgegenwirken, die leider auch die Medien aufgreifen. Wir versuchen zu zeigen, wie viele Gemeinsamkeiten wir haben. Viele Vorstellungen sind miteinander verwoben, und wir haben ähnliche Wurzeln. Das ist ein Paradigma, das wir immer wieder aufgreifen, um einerseits Differenzzuschreibungen zu dekonstruieren und andererseits, um ein Museum für alle zu sein. Die verschiedenen Zielgruppen ziehen wir mit verschiedenen Themen an. Im Rahmen der Ausstellung „Die weibliche Seite Gottes“ haben wir zum Beispiel eine Podiumsdiskussion mit einer feministisch-muslimischen Vertreterin der islamischen Theologie der Goethe-Universität Frankfurt geplant, mit einer feministischen Wissenschaftlerin von der katholischen Hochschule in Münster und einer Rabbinerin. Ich kann nur für den Islam sprechen: Im Koran steht „Rahmān“, „der Barmherzige“, als einer der 99 Namen Gottes. Das Wort bedeutet zugleich auch „Rahim“, „die Gebärmutter“. Allein in der Sprache gibt es sehr viele Ansätze, in denen das Schöpferische der Gebärmutter der Frau zugewiesen wird.
WENZEL: Es ist schön, dass du auf den Begriff Rahmān eingehst – denn eben das tut auch unsere aktuelle Ausstellung. Im Eingangsbereich zeigen wir Göttinnen aus dem antiken Israel, denen gehuldigt wurde. Wir werfen die Frage auf, wohin die Vorstellungen, die mit diesen Göttinnen assoziiert wurden, nach dem sogenannten babylonischen Exil verschwinden. In der hebräischen Bibel gibt es etliche Passagen, in denen die Huldigung von Göttinnen als Bestandteil des Götzenkults bekämpft wird. Auf der anderen Seite finden wir auch Passagen, in denen Gott eine weibliche Gespielin, wie etwa die Weisheit, zur Seite gestellt wird. Auch die „Einwohnung Gottes auf Erden“, die Schechina, ist weiblich konnotiert und weist einige Ähnlichkeit mit der Vorstellung von Gottes Barmherzigkeit, Rahmān, im Islam auf. Die Schechina fungiert in der Kabbala als eine der zehn Sephirot, und ihr wird hier eine dynamisierende, gebärende Funktion zugeschrieben. Wir thematisieren also nicht nur, wohin die Vorstellungen verschwinden, die den Göttinnen anhingen, sondern auch, was Judentum, Christentum und Islam in dieser kulturgeschichtlichen Entwicklung gemein haben.
STURM: Die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe betrachtet ästhetische Erfahrungen als ausschlaggebend für eine kritisch-emanzipatorische Haltung, die mit dem Gegebenen brechen und gleichzeitig konstruktive Perspektiven für die Zukunft anbieten kann. Haben Sie Rückmeldungen über eine veränderte Haltung von Besucher*innen Ihres Museums erhalten?
WENZEL: Wir verfolgen in unserer Museumsarbeit einen Ansatz, den man im Englischen audience-driven nennt. Im Vorfeld der Neueröffnung haben wir uns zum Beispiel auf acht Zielgruppen geeinigt, diese personalisiert und sind dann aus ihrer Perspektive unsere Konzepte durchgegangen. Wir haben Zielgruppenworkshops durchgeführt, um zu überprüfen, ob unsere Annahmen richtig sind, und unsere Konzepte dann weiterentwickelt. Als Museum sind wir eine von der Öffentlichkeit finanzierte Einrichtung, und es ist unsere Aufgabe, für die Öffentlichkeit da zu sein. Das heißt auch, die Interessen zu verstehen und in unsere Konzeptentwicklung einzubinden. Das tun wir nicht nur in der Bildungsarbeit, sondern auch in der Ausstellungsarbeit. Evaluation war auch bei den Programmen, die Türkân verantwortet, immer wichtig.
KANBIÇAK: Wir haben sowohl AntiAnti als auch ein anderes Programm, Wahrheiten & Narrheiten, das sich an Grundschüler*innen richtet, evaluiert. Mit AntiAnti erreichen wir die Lernenden, ihre Schulgemeinschaft und auch ihren sozialen Nahraum, also die Eltern, die Geschwisterkinder, Verwandte und den Bekanntenkreis. Bei dem Programm Wahrheiten & Narrheiten haben wir festgestellt, dass die Schüler*innen mit ihren Eltern ins Museum kommen. Dabei handelt es sich um Familien, die sonst nicht in ein Museum gehen würden, und schon gar nicht in ein jüdisches. Sie kommen aber hierher, erleben ihre Kinder auf eine sehr aktive Weise, sehen, wie sie empowered und gewürdigt werden, und das hat eine große Wirkung. Es werden bei uns Räume der Transkulturalität eröffnet, und den Besucher*innen wird die Möglichkeit gegeben, aus dem kollektiven Gedächtnis, das sie mitbringen, und aus dem, was sie hier vorfinden, ein neues Gemeinsames zu erschaffen. Genau das sollten, wie wir meinen, Einwanderungsgesellschaften leisten. Dass das geöffnet und gelebt werden kann und man das auch sehen kann, ist das genuin Politische in unseren Programmen.
Türkân Kanbıçak ist Lehrerin und promovierte Erziehungswissenschaftlerin. Seit 2013 ist sie an das Jüdische Museum Frankfurt abgeordnet und verantwortet dort neben diversitätssensibler und rassismuskritischer Bildungsarbeit die Outreach-Programme. Darüber hinaus ist sie langjährige Lehrbeauftragte des Fachbereichs Sozial- und Kulturwissenschaften an der Hochschule Fulda.
Mirjam Wenzel ist Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, Honorarprofessorin am Seminar für Judaistik der Goethe-Universität Frankfurt und hat dieses Wintersemester die Bauhaus-Gastprofessur inne.
Birke Sturm ist promovierte Kunstpädagogin und Kulturwissenschaftlerin. Sie unterrichtet als Lehrerin am Lauder Chabad Campus Wien und als Lehrbeauftragte an der Akademie der bildenden Künste Wien.
Image credit: Jüdisches Museum Frankfurt