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Immanenz und Anamnese Simon Baier über „Forgetting the Art World“ von Pamela M. Lee

Allan Sekula, „Panorama. Mid-Atlantic“, 1993 Allan Sekula, „Panorama. Mid-Atlantic“, 1993

Der Titel von Pamela M. Lees neuem Buch „Forgetting the Art World“ scheint paradox. Wie lässt sich behaupten, dass heute, zu einem Zeitpunkt extremer Ausdehnung und maximaler Sichtbarkeit des Künstlerischen, die Kunstwelt in Vergessenheit gerät?

In einer philosophischen Gegenlektüre rekonstruiert Simon Baier Lees Analysen einer globale Maßstäbe und größte Verflechtung mit der Welt suchenden zeitgenössischen Kunst, deren gesteigerte Präsenz auf eine Situation hinausläuft, die man eine geopolitische Immanenz des Kunstwerks nennen könnte. Dieser Sturz der Werke in die Welt führt nicht zuletzt zu Arbeiten wie den Fotografien Andreas Gurskys, in denen der Blick aufs Globale noch die formale Struktur bestimmt.

Vergessen ist kein Akt des Subjekts. Es passiert, gleichsam von außen, an den Rändern der Aufmerksamkeit. Wie könnte ausgerechnet die Kunstwelt aus dem Blick geraten, die unübersehbar, panoramatisch expandiert: E-flux, als ständige Mahnung, dass sich an immer neu kolonisierten Orten ihre überfordernde Sichtbarkeit produziert, die im Ganzen unmöglich rezipiert und dennoch nicht ignoriert werden kann! Der Titel von Pamela Lees jüngstem Buch, „Forgetting the Art World“ [1] , ist deshalb kaum als unmöglicher, weil nicht befolgbarer Imperativ zu verstehen, sondern stellt eine Diagnose, die in ihrer Anamnese auf das Gegenteil schließt: Die Ursache dieses Vergessens, das sich längst ereignet, ist nicht an eine Abwesenheit oder ein Verschwinden, sondern an eine neue Qualität der Präsenz der Kunst geknüpft. Diese Präsenz wird laut Lee nicht allein durch deren digitale Informatisierung und ihren steigenden Tauschwert produziert. Um die gegenwärtige globale Dissemination der Kunst einschätzen zu können, muss deshalb genauso eine durch sie selbst instituierte „kulturelle Ökonomie“ [2] in Betracht gezogen werden. Denn die politische Ökonomie im Ganzen ist heute durch Formen der Wertgenese mitbestimmt, die durch künstlerische Strategien formuliert, getestet oder überhaupt denkbar geworden sind, wofür die Hegemonie des Designs und die Bestimmung von Kreativität selbst als ökonomische Instrumente paradigmatisch stehen.

Was damit die Produktion von Kunst von dem unterscheidet, was als Prozess der Globalisierung unsere Gegenwart definiert, ist für Lee in einem Maß durchlässig geworden, dass die Konturierung einer davon getrennten, in sich abgeschlossenen Kunstwelt unhaltbar ist. Das Vergessen der Kunstwelt ist aus diesem Grund selbst Effekt dessen, was als Globalisierung die Fernräume der Welt in einen einzigen, homogenen Nahraum transformiert. Was absolut gegenwärtig ist, muss und kann nicht mehr erinnert werden.

An dieser konzise formulierten Lagebestimmung, an die sich in vier Kapiteln Analysen einzelner künstlerischer Positionen anschließen, fällt auf den ersten Blick vor allem Folgendes auf: Nicht nur wird hier eine These der kritischen Theorie so gewendet, dass der als katastrophisch diagnostizierte Kollaps der Distanz zwischen Ökonomie und Kunst als Ort eines genuinen Kontakts zwischen Kunstwerk und Welt entdeckt wird, der sich im Innenraum des Kapitals ereignet. [3] Eine solche Perspektive ermöglicht es Lee zugleich, Globalisierung nicht zum bloßen Inhalt von Kunstwerken, Publikationen oder Ausstellungen zu verkürzen. Sie ist ihrer Meinung nach strukturell nur unzureichend durch die Inklusion bestimmter Themen, nationaler Gebiete, Orte oder Praktiken in die Kunst, ihre Institutionen und Ausstellungen beschrieben, weil sie deren Produktion selbst immer schon materiell bestimmt: Globalisierung als matter und materialization ist eine Herstellung von Welt, die so mit der Produktion von Kunstwerken in ein analoges Verhältnis tritt. [4]

In Lees Argumentation ist es deshalb letztlich nicht das Kapital, das die Kunst aushöhlt und als Tauschwert nivelliert. Es ist vielmehr die Kunstwelt selbst, die, indem sie den Blick auf den Punkt verstellt, wo das Kunstwerk als Objekt in die ökonomische Welt und deren Prozesse getaucht ist, dessen Potenzial verkennt und beschneidet. Lee charakterisiert diesen Berührungspunkt zwischen Werk und Welt durchweg chthonisch: „the world on the ground“, „the everyday world down below“, „being brought down to earth“. [5] Die Auflösung der Fiktion einer autonomen Kunstwelt impliziert einen Sturz des Werks, das auf einem Boden der Tatsachen aufschlägt. Lees Rekurs auf Arthur Dantos Aufsatz „Artworld“ aus dem Jahr 1964 endet deshalb mit einer überraschenden Volte. [6] Konfrontiert mit Warhols „Brillo Boxes“ und deren zumindest visueller Ununterscheidbarkeit von Waren, schloss Danto bekanntlich, dass Kunstwerke gerade nicht materiell bestimmt werden können. Sie seien vielmehr untrennbar von ihrem epistemischen Feld, das ihnen als Differenz allein eine sprachliche Interpretation geben kann. Lees hypothetische Auflösung eines solch geschlossenen Diskurses, der Kunstwerke auf Sprachspiele reduziert, bringt im Gegenzug einen äußerst starken Werkbegriff in die Diskussion zurück, den sie in groben Zügen an die Philosophie Martin Heideggers anlehnt: „the work of art as a world.“ [7] Jenseits und vor seiner Implikation in eine Kunstwelt ist das Werk eine irreduzibel materielle Herstellung von Sichtbarkeit, die selbst eine Welt impliziert. Was als Form damit ins Zentrum der Analyse rückt – „form as above all formative in a dynamic of globalization“ [8] –, ist nicht mehr auf Konventionen der Repräsentation oder eine Geschichte des Mediums bezogen, sondern auf Techniken der Globalisierung selbst. Vielleicht ist es Lees rapider Fusion von ­Heideggers „Zeit des Weltbildes“ mit dessen „Ursprung des Kunstwerks“ geschuldet, dass damit eine entscheidende Differenz beinahe unbemerkt bleibt, die ihre Analyse von seiner trennt. Wenn die Epoche der Globalisierung eine Zeit des Weltbildes initiiert und das Kunstwerk nichts anderes herstellen kann als dieses Bild, dann eröffnet es keine Welt mehr, sondern allenfalls deren Ende, wo es in Verdampfung der Distanzen alles als verfügbar zeigt. Heidegger zumindest ist in dieser Hinsicht illusionslos.

Lee ist sich des Dilemmas, in das die von ihr proklamierte geopolitische Immanenz des Kunstwerks führt, absolut bewusst. Zumindest scheint es mir an solchen Stellen so, wo sie als Gegengift dazu die Dialektik, mit aller Vorsicht eingesetzt, aufruft: „appeals to the dialectic might be bracketed relative to the geopolitics of immanence – and vice versa.“ [9]

Den Widerspruch einer historischen Dialektik – anstatt einer kritischen Distanz – im Kunstwerk zuzulassen, markiert damit den liminalen Rest, der es davon trennt, bloßer Effekt seiner Umstände zu sein. Widersprüche der Globalisierung in die eigene Produktion zu zwingen und damit lesbar werden zu lassen, ist also, wozu Kunstwerke, trotz allem, in der Lage sind. Der Hauptteil des Buches muss einlösen, was diese These verspricht. In ihrer Auswahl von Künstlern überrascht Lee nicht mit Unbekannten – was sicher kaum schwierig wäre – als mit ihrer Respekt gebietenden Inhomogenität großer Namen, die alle müde konventionalisierten Übereinkünfte ignoriert. Nach der Kunstwelt gibt es keine Szenen mehr: Steve McQueen („Gravesend“, 2007), in der Einleitung des Buches behandelt, folgen in drei Kapiteln in unvermittelter Polarität Takashi Murakami, Andreas Gursky und Thomas Hirschhorn; abgeschlossen mit einem vierten, das einen Blick auf die Figur des Kollektivs in der Gegenwartskunst wirft, um Werke der Atlas Group und des Raqs Media Collective mit Theoremen Tiqquns zu rahmen. Ich möchte mich im Folgenden auf die von Lee vorgeschlagene Interpretation der Arbeiten Andreas Gurskys konzentrieren.

Gurskys Fotografien zeichnen sich für Lee durch eine fundamentale Spaltung aus, die ihren Ausgang letztlich nicht von den dargestellten Sujets oder von ihren auf die Geschichte der Malerei referierenden Großformaten nimmt, sondern die in deren fotografischer Technik selbst begründet ist. Gurskys Tableaus sind einerseits an die Tradition der analogen Fotografie, ihre automatisierte Zentralperspektive, ihr Phantasma der Indexikalität und am Ende an ein solares Licht gebunden. Sie implizieren einen planetaren Ort und die hypothetische Einzeichnung eines verkörperten Subjekts. Seit Anfang der 1990er Jahre sind sie aber zugleich an eine digitale Technik geknüpft, die ihren eigenen Bildraum radikal unterminiert.

Im Gegensatz zu Murakami, dessen Designs, wie Lee ausführt, auf skalierbaren Vektorgrafiken basieren, ist Gurskys Digitalisierung durch Adobe Photoshop an Raster und Pixel gebunden. Seine Aufnahmen können damit nicht ohne Einbußen unendlich vergrößert werden. Die Eliminierung von Unschärfen, der Luftperspektive und in vielen Fällen eines zentralen Fluchtpunkts zugunsten eines multifokalen Bildes supponiert der von ihm dargestellten Welt einen fluiden, asubjektiven und anatmosphärischen Träger, den Lee als „Äther“ charakterisiert, der, wie sie zeigen kann, jenseits seiner naturwissenschaftlichen Obsoletheit die Metaphorik unserer technischen Welt immer noch bestimmt. Die Objekte in Gurskys Fotografien treten so als unheimliche Komposita in einen Bildraum, um sich im Gegenzug als informatisierte gleichsam aus dem Feld ihrer Phänomenalität auszutragen.

Was Michael Fried daran formal als Entzug von Gurskys Werken aus ihrer theatralen Situation beschreiben kann, [10] wird mit Lee Ausdruck eines genuinen Realismus gegenüber einer Welt, die sich in ihrer räumlichen Struktur jeder Form von körperlicher Unmittelbarkeit entzieht. Fotografien wie „Salerno“ (1990), die den Hafenraum der italienischen Stadt als Fleckenraster aus Wohnhäusern, Schiffscontainern und Autos entwirft, zeigen deshalb primär nicht die fotografischen Spuren industrieller Produktion, ihrer Logistik und ihrer Körper, die sich an der Oberfläche noch immer in das Dekor der Serialität, wie es das frühe 20. Jahrhundert entworfen hat, einschreiben. Sie lassen vielmehr die Kolonisierung dieser Form der Produktion durch eine andere erahnen. Auch wenn sich die industrielle Produktion der analogen Kamera zeigt, die ihr historisches Medium ist, wird sie ihr im selben Moment durch eine Logik der Informatisierung entzogen, welche die Szene an eine andere, undarstellbare Bewegung bindet, die sich nicht mehr entlang von Handelsrouten, zwischen Land und Meer, nachzeichnen lässt. Der Glanz des Bildes ist durch eine Illumination initiiert, die kein Licht braucht, sondern von einer Produktion ausgeht, die sich selbst als immateriell feiert. Darin analogisiert sich die Fotografie als Weltbild zu einer Form von Produktion, von der sie selbst jedoch nichts zeigen kann. Auch wenn in sie selbst eine Spaltung des Raums der Repräsentation technisch eingeschrieben ist, kann sie weder von den eigenen digitalen Bedingungen sprechen noch über das etwas sagen, was jenseits der Herstellung von Objekten und deren Distribution im Mikrosekundentakt damit auf Servern Profite schlägt. Aber ist dieses Schweigen nicht präzise der Preis, der zu zahlen ist durch das, was Lee an andere Stelle Gurskys „mimetic relation“ [11] nennt? „Through the ether, his work internalizes the logic of a world system to the point where its processes are thoroughly and indivisibly naturalized. It is for this reason important to speak to those conditions that his work renders invisible.“ [12] Dass dies gegen Gurskys Praxis spricht, scheint mir offensichtlich. Lee sieht das anders. Der Äther als Figur des verabsolutierten, digitalen Transfers, die sich postfotografisch ins Bild setzt, aber als mythografisches Schema darin unbefragt bleibt, bleibt in Gurskys Erhabenem eine reale Fiktion, deren eigene materielle Gründe in die Sichtbarkeit gezwungen werden müssen, und zwar deshalb, weil sie nicht nur von der Herstellung einer Fotografie sprechen. Dies überhaupt zu einem Projekt zu erklären, zeichnet Lees Buch in entschiedener Weise aus. Der weltliche Abfall residualer Pixel, den sie als Kompensation dafür auf Gurskys Oberflächen findet, [13] kann von seiner politischen Ökonomie offensichtlich und dennoch nichts berichten, sondern nur erneut ihr Vergessen installieren.

Pamela M. Lee, Forgetting the Art World, Cambridge, Mass.: MIT Press, 2012.

Anmerkungen

[1]Pamela M. Lee, Forgetting the Art World, Cambridge, Mass. 2012. Einige der in Lees Buch ausgearbeiteten Punkte nehmen Diskussionen auf, die im Juli 2007 im Rahmen des durch das Art Institute Chicago veranstalteten Stone Summer Theory Institute unter dem Thema „Art and Globalization“ geführt wurden. An diesen Gesprächen hat auch der Verfasser dieser Rezension teilgenommen.
[2]Lee entnimmt diesen Begriff George Yudices, The Expediency of Culture. Uses of Culture in a Global Age, Durham 2003. Vgl. Lee, Forgetting, a. a. O., S. 22.
[3]In dieser Hinsicht ist Lees Publikation als Pendant zu David Joselits kürzlich erschienenem Buch „After Art“ zu lesen. Nicht nur, weil beide Autoren eine historische Verschiebung im Verhältnis von Kunstwerk und Welt diagnostizieren; beide nehmen diese Verschiebung auch zum Anlass, den diagnostizierten Kollaps der Distanz zwischen Welt und Werk nicht als Implosion von Kritik, sondern letztlich als potenzierend für die politische Effektivität von Kunst überhaupt zu lesen. Ein entscheidender Unterschied zwischen Joselit und Lee scheint mir aber nicht nur in der Anlage der Bücher zu liegen: Joselit schreibt einen Essay. Lees wesentlich ausgreifendere Publikation verwendet den Großteil der Energie weniger für zeitdiagnostische Analysen, sondern lastet deren implizite Plausibilität ihren Interpretationen einzelner Kunstwerke an. Die zweite, wesentlichere Differenz scheint mir dort zu liegen, wo Lee auf die materielle Produktion von Kunstwerken insistiert, anstatt sie, wie Joselit, als Effekt ihrer Distribution zu beschreiben. David Joselit, After Art, Princeton, 2013.
[4]Vgl. Lee, Forgetting, a. a. O., S. 8.
[5]Ebd., S. 19.
[6]Ebd., S. 11ff.
[7]Ebd., S. 24.
[8]Ebd., S. 25.
[9]Ebd.
[10]Vgl. Michael Fried, Why Photography Matters as Art as Never Before, New Haven, 2008, S. 143–189.
[11]Vgl. Lee, Forgetting, a. a. O., S. 99.
[12]Ebd., S. 93.
[13]Vgl. ebd., S. 103.