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T.J. Demos

Barbarei oder Sozialismus? T. J. Demos über die II. Internationale Istanbul Biennale

KP Brehmer, „Soul and Feelings of a Worker“, 1978/80, 11. Istanbul Biennale, 2009, Ausstellungsansicht KP Brehmer, „Soul and Feelings of a Worker“, 1978/80, 11. Istanbul Biennale, 2009, Ausstellungsansicht

In der aktuellen Ausgabe der „Frieze“ hat Tirdad Zolghadr prophezeit, dass „Texte zur Kunst“ über die jüngste Ausgabe der Istanbul Biennale schwärmen würde. Abwarten. Das Leitmotiv des Kuratorinnenkollektivs „WHW / What, How & For Whom“, im Rahmen einer Großausstellung zeitgenössischer Kunst den Kommunismus als utopisches Projekt wieder beleben zu wollen, klingt vorsichtig ausgedrückt ambitioniert. Einen Versuch ist es aber vielleicht wert.

Wie genau würde sich dieses Anliegen also vor Ort konkretisieren? Welche Künstler/innen und ästhetischen Praktiken einem solchen Vorhaben überhaupt Ausdruck verleihen können? Wie sich die Ausstellung der landläufigen Kritik an der „Biennalenkultur“ gegenüber positionieren? Kurzum: Gab es Grund zum Schwärmen?

Der Titel dieser elften Ausgabe der Istanbul Biennale, die von dem aus Zagreb stammenden Kuratorinnenkollektiv WHW (What, How and for Whom? [1]) organisiert wurde, entstammt dem niederschmetternden Finale aus Brechts Dreigroschenoper, „Denn wovon lebt der Mensch?“, das die einfache Frage im Refrain auf das Drastischste beantwortet: „Indem er stündlich/Den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frißt.“ [2] Im Jahr 1928 in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann und Kurt Weill verfasst und mit bemerkenswertem Weitblick für Deutschlands düstere Zukunft, dient Brechts Forderung nach einer Politisierung der Kunst den Kuratorinnen als Losung bei ihrem Versuch, die Ästhetik von heute in neuer Solidarität mit der sozialistischen Moderne aufzustellen. Im Ausstellungskatalog erklären sie, dass der Kommunismus mit seinen „Grundwerten“ von „gesellschaftlicher Gleichheit, Solidarität [und] sozialer Gerechtigkeit“ als emanzipatorische Politik konkurrenzlos bleibe, die in der Lage sei, die globale Hegemonie des neoliberalen Kapitalismus anzugreifen – also die freie Marktwirtschaft, die Privatisierung staatlicher Einrichtungen, den Abbau sozialer Sicherungssysteme und organisierter Arbeit sowie autokratische Regierungsformen, die im Kontext einer sich verschärfenden Entwicklung zu politischem Autoritarismus und militärischer Beherrschung faschistische Tendenzen zeitige, wie sie behaupten. Dem Kollektiv WHW zufolge stehen wir weiterhin vor demselben Dilemma, das Rosa Luxemburg bereits 1915 in der Alternative „Barbarei oder Sozialismus“ auf den Punkt gebracht hatte. [3]

Eine Neubelebung des Kommunismus ist sicherlich ein komplexes, riskantes Unterfangen – wie steht es mit seinem real existierenden katas-trophalen Totalitarismus? – und die Beschwörung des Gespenstes des Faschismus potenziell überzogen, wenn nicht gefährlich, insbesondere wenn es unsere Anerkennung der Singularität seines Auftretens in der Mitte des 20. Jahrhunderts einschränkt. Doch WHW hat seine Ziele vorsichtig, wenn auch verführerisch, formuliert und will eine nostalgische oder unvermittelte Rückkehr zur Vergangenheit dadurch vermeiden, dass es das aktuelle Potenzial des Sozialismus herauszuarbeiten versucht; den heutigen Faschismus definieren die Kuratorinnen als ein politisches Kalkül, das extreme wirtschaftliche Ungleichheit, politische Entrechtung, rechtswidrige Kriege und Umweltzerstörung zur Folge hat. Dennoch lassen ihre Behauptungen mehrmals die Alarmglocken schrillen: Ist der Vergleich der derzeitigen geopolitischen Lage in Osteuropa und im Nahen Osten (die selbst bereits grundverschieden sind) mit der Weimarer Republik der späten 1920er Jahre (oder mit der zu Luxemburgs Zeiten während des Ersten Weltkriegs) nicht ein unmöglicher historischer Sprung? Stellt der Faschismusvorwurf nicht einen Fall von radikalistischer Rhetorik dar, die in ihrem Versagen, zwischen historischen Zusammenhängen zu differenzieren, unsere politische Erkenntnis verkümmern lässt? Und wie kann eine Biennale, selbst verstanden als kulturelle Manifes- tation der neoliberalen Globalisierung, glaubhaft ein sozialistisches Programm vorschlagen, ohne naive Scheinheiligkeit an den Tag zu legen oder schlichtweg zynisch zu werden?

Auch wenn die Vorschläge von WHW die harschsten Kritiker am Ende nicht befriedigen mögen, verlangen sie dennoch eine ernsthafte Auseinandersetzung. Während alle Analogien, so könnte man behaupten, monströs sind – insofern sie historische Singularität durch die Bildung oberflächlicher Kontinuitäten beseitigen (eine Gefahr, die hier gegeben ist) –, können solche Vergleiche dennoch hilfreich sein, da sie auf einer strategischen Ebene Weitblick verschaffen und vor einer möglicherweise katastrophalen Zukunft warnen und so die Kräfte des Widerstands heute zu beflügeln vermögen. Darüber hinaus können historische Gegenüberstellungen aufschlussreiche Unterschiede erkennbar werden lassen: So war zum Beispiel Brechts Zeit, wie WHW bestätigt, vom sozialistischen Kampf geprägt, der sich direkt gegen den erstarkenden deutschen Nationalsozialismus richtete, während Sympathisanten in der heutigen postsozialistischen Ära ohne unmittelbare Möglichkeiten verbleiben, die – ungeachtet seines jüngsten angeblichen Rückschlags (der sich noch als eine Periode der Konsolidierung erweisen könnte) – fortschreitende Ausbreitung des Neoliberalismus anzugreifen; daher die Notwendigkeit einer Neubelebung des Projekts einer emanzipatorischen Politik. In der in diesem Geist entstandenen Biennale werden jedoch keineswegs der zeitgenössischen Kunst Brecht’sche Strategien aufgezwungen (auch wenn der Einsatz ästhetischer Verfremdung, reflexiver Theatralität und pädagogischer Experimente – Brechts Markenzeichen – zweifellos manche der ausgewählten Werke inspiriert hat). Vielmehr hat WHW Arbeiten ausgewählt, die die Aushöhlung der liberalen Demokratie wirkungsvoll zum Ausdruck bringen und eine einfallsreiche statt doktrinäre politische Imagination vorführen. Zu diesem Zweck hat WHW bewusst die Höhle des Löwen betreten. Selbst wenn sie sich in einem Raum von Widersprüchen bewegt, kann die Biennale, so behaupten die Kuratorinnen – und meiner Meinung nach zu Recht –, das Versprechen geben, autonome politische Handlungsfähigkeit zu beflügeln.

Die Arbeiten, die in drei leer stehenden, postindustriellen Gebäuden in Istanbuls europäisch geprägtem Beyogˇlu-Viertel aus dem 19. Jahrhundert ausgestellt sind – im Speicher Antrepo No. 3, der Tabakfabrik und der ehemaligen griechischen Feriköy-Schule –, stammen größtenteils aus den Nachbarregionen Osteuropa und Naher Osten; sie sind Beispiele für Praktiken aus Gebieten des Postsozialismus und des Postkolonialismus, die heute Teil der sogenannten freien Marktwirtschaft und Demokratie sind. Die vielen überzeugenden Arbeiten von meist weniger bekannten und unterrepräsentierten Künstlern (nur 22 der 70 ausgestellten Künstler werden von kommerziellen Galerien vertreten, wie man aus der selbstreflexiven Ausstellungsstatistik in der Feriköy-Schule erfährt) wurden in den Ausstellungsräumlichkeiten durch Wandtexte und Beschilderungen in konstruktivistischem Rot visuell verbunden. Ein weiterer roter Faden war Sanja Ivekovic´’ „Turkish Report 09“ (2009): Zerknüllte rote Papierstücke, auf die der Bericht einer lokalen NGO über den prekären Status von Frauen in der Türkei, die noch immer der Praxis des Ehrenmords unterworfen sind, gedruckt war und die in allen drei Ausstellungsorten über die Fußböden der Hallen verstreut waren und so die deprimierende Abweisung humanitärer Anliegen durch die Regierung veranschaulichten.

An den drei Orten fanden sich zahlreiche historische Projekte, die vergangene Beschäftigungen mit antikapitalistischer und sozialistischer Kunst aus den Archiven holten und so der Absicht der Kuratorinnen, die Ästhetik zu politisieren, Vorschub leisteten. Besonders aufschlussreich waren in diesem Zusammenhang die „stratografischen“ Bilder des deutschen Künstlers KP Brehmer aus den späten 1970ern, die kapitalis-tische Arbeitsbedingungen soziologisch analysieren, Mohammed Ossamas Dokumentarfilm „Step by Step“ (1977), der die traditionszersetzende Modernisierung in Syrien darstellt (einschließlich Aufnahmen eines Soldaten, der behauptet, er würde das Haus seiner eigenen Familie planieren, wenn ihm dies befohlen würde), die Wiederverwendung von sozialistischem Propaganda- material durch den Usbeken Vyacheslaw Akhunow in seinem Collagezyklus „Leniniana“ (1977–82) sowie die allegorischen Gemälde des türkischen Künstlers Yüksel Arslan aus der Reihe „Kapital“ von 1973–74. Während diese Arbeiten der Ausstellung eine gewisse historische Tiefe verliehen, warfen sie auch einen melancholischen Schatten; in ihnen bezeugt sich der Niedergang der sozialistischen und antiimperialistischen Kämpfe, die die Vorgeschichte unseres eigenen entpolitisierten Konsens darstellen.

Dieser Befund kam am stärksten – und deprimierend – in der Mehrkanal-Videoinstallation „Democracies“ (2009) des polnischen Künstlers Artur Zmijewski zum Tragen, die auf etwa 20 aneinandergereihten Flachbildschirmen verschiedene Straßenkundgebungen und öffentliche Proteste zeigt, darunter das Begräbnis des österreichischen Führers der Rechten, Jörg Haider, einen Marsch der irischen Loyalisten in Belfast sowie palästinensische Demonstrationen gegen die israelische Besatzung nebst israelischen Protesten gegen die Palästinenser. Die Kakofonie der gleichzeitig und ohne Kommentar abgespielten Videos offenbart die verhängnisvolle Transformation des öffentlichen Raums in eine Bühne für Massenspektakel des fanatischen Nationalismus, des ethnischen und religiösen Ausschlusses sowie der neofaschistischen Intoleranz. [4] Die Gegenüberstellung, in der eine gewisse Homogenisierung des Stadtraums sichtbar wird, fängt den alles durchdringenden postpolitischen Zustand von heute ein, in dem es keine agonistischen Verhandlungen von Unterschieden mehr gibt, die für Theoretiker wie Chantal Mouffe und Jacques Rancière Demokratie überhaupt ausmachen. In dieser Hinsicht war auch Igor Grubic’ Zweikanalvideo „East Side Story“ (2006–08) treffend, das die Dokumentation von Angriffen auf Schwulendemonstrationen in Belgrad und Zagreb aus der jüngsten Vergangenheit mit Aufnahmen der Demonstranten verband, die im öffentlichen Raum tanzten und so das Trauma dieser homophoben Ereignisse zum Ausdruck brachten.

Die Präsentation des historischen Materials war jedoch zwiespältig, sobald es in einen Zusammenhang mit den benachbarten zeitgenössischen Arbeiten gebracht wurde. So zum Beispiel „Signs of Conflict: Political Posters of Lebanon’s Civil War, 1975–90“, eine hier integrierte Miniaturausstellung, die ursprünglich 2008 von Zeina Maasri für eine Ausstellung in Beirut kuratiert worden war. Als Archiv konkurrierender Propaganda von libanesischen Milizen bot das Raster der visuell schrillen Poster den Hintergrund sowohl für die in kräftigem Rot gehaltene minimalistische Skulptur der Weißrussin Marina Napruschkina, „The President’s Platform“ (2007), die dem pompösen Podium des Autokraten Alexander Lukaschenko nachempfunden war, sowie für „Study for Nuclear Bomb Shelter (no. 137)“ (2005– 09) des Iraners Shahab Fotouhi, eine politische Pop-skulptur aus einem Metallkäfig, über dem sich ein riesiges aufblasbares, an einen Atompilz gemahnendes Etwas befand. In der Konstellation der Arbeiten bestätigte sich die Aussage der Kuratorinnen, dass es nicht die brechtianisch gewordene Kunst, sondern vielmehr die Welt der politischen Demagogie ist, die soziale Vorherrschaft und militärische Zerstörung verhüllt. Doch indem hier eine geopolitische Konvergenz dieser verschiedenen Staaten auf den militärischen Totalitarismus hin angenommen wurde, ging die Eigenheit des jeweiligen Kontexts verloren und verkürzte so unser Verständnis der Globalisierung – außer man verstand die Werke als Registratur einer aus Paranoia und Angst gebildeten politischen Bildwelt der Affekte, in der solche Unterscheidungen nicht wahrgenommen werden, wie sie heute durchaus vorkommt.

Die Anerkennung der Macht der Bilder über die Realität kam in „The Inhabitants of Images“ des Libanesen Rabih Mroué zum Ausdruck, das zur Eröffnung der Biennale im nahe gelegenen Emek-Kino aufgeführt wurde. In seiner Lecture-Performance spann Mroué aus der Analyse eines projizierten Bildes, das ein unmögliches Treffen zwischen dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, der 1970 starb, und dem fast gleichaltrigen libanesischen Premierminister Rafik Hariri, der 2005 ermordet wurde, zeigte, eine faszinierende Erzählung über die Beschäftigung mit Bildern, die die Grenze zwischen dem Realen und dem Fiktiven verwischen. Anschließend sprach der Künstler über digital montierte Bilder von Märtyrern der Hisbollah nach den israelischen Bombardierungen 2006, in denen der heutige Libanon zeigt, wie er in einem prekären Gleichgewicht zwischen dem politischen Islam und einem prowestlichen Laisser-faire-Kapitalismus schwebt und das Individuum in der ständigen Gefahr lebt zu verschwinden. Wenn der Kommunismus tatsächlich einen aussichtsvollen dritten Weg darstellt, wie Mroué an einer Stelle andeutete, dann bedürfte sein beiläufig vorgetragener Gedanke um der Glaubwürdigkeit willen weiterer Erläuterungen.

Anders als die kombinatorische Ausstellungslogik, die im Antrepo- Gebäude überwog und die bisweilen auch undurchschaubar bleiben konnte – so waren die Besucher in der ersten Halle etwa mit der verwirrenden Kombination von Wafa Houranis futuristischem Modell eines postkolonialen palästinensischen Flüchtlingslagers („Qualandia 2087“, 2009), Trevor Paglens Fotografien von Sternennächten, die Aufklärungs-/Spionagesatelliten zeigen („Celestial Objects ((Istanbul))“, 2009), und Canal S¸enols Video von zwei Milch absondernden Brüsten vor schwarzem Samthintergrund („Fountain“, 2009) konfrontiert –, boten die anderen Orte kleinere, Einzelpräsentationen gewidmete Hallen. Das aus St. Petersburg stammende Kollektiv Chto delat?/Was tun? zeigte „Songspiele“, eine Reihe von Videos, in denen die letzten Tage von Gorbatschows UdSSR unter der Perestroika dokumentiert und nachinszeniert werden. Filmmaterial von leidenschaftlichen Straßendiskussionen belebte den Abriss politischer Geschichte durch die Gruppe, der mit der Auflösung der Sowjetunion endete. Ein Video – eine Art zeitgenössisches „Lehrstück“ – zeigte eine Allegorie des Verfalls des postkommunistischen Russlands in den Händen von gierigen Unternehmern, während der Wandtext die Frage stellte: „Was hätte sein können?“ Mit seiner Anspielung auf das verlorene Potenzial eines rekonstruierten Sozialismus – mit demokratischer Partizipation, ökonomischer Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit – überzeugte das Projekt durch die Inspiration politischer Bestrebungen, die in vielen anderen Arbeiten der Ausstellung vernachlässigt wurden, so insbesondere in den faktografischen und statistischen Abbildungen der heutigen Realität militärischer und politischer Netzwerke in dem kartografischen Poster „Administration of Terror“ (2009) der französischen Gruppe Bureau d’études. Während der Positivismus der Grafiken in gewissem Maße eine Absage an darstellerische Mehrdeutigkeit darstellt, verband sich das bedingungslose Beharren von Bureau d’études auf der Aufdeckung soziologischer Tatsachen mit der Absicht der Kuratorinnen, künstlerische „Ambivalenz“, die sie für unentschlossen und politisch lähmend halten, zu vermeiden.

In der leer stehenden griechischen Feriköy-Schule – die als Bildungsstätte emblematisch für den Wunsch der Kuratorinnen war, die Biennale in einen innovativen Ort für ästhetisches und politisches (Wieder-)Lernen zu transformieren – zeigte die Gruppe Decolonizing Architecture (Alessandro Petti, Sandi Hilal und Eyal Weizman) ihre futuristischen Vorschläge für die kreative Neunutzung von Postokkupationsräumen nach Israels Rückzug aus den palästinensischen Gebieten. In einem der auf Schultischen platzierten Handbücher unterstrich ein Zitat von Giorgio Agambens Beobachtung, dass bei der Betrachtung von Foucaults Machtkonzeption die Prozesse der Subjektivierung allzu oft übersehen werden (zugunsten jener der Desubjektivierung) [5], die Notwendigkeit, herrschende Strukturen zu beseitigen und das Prinzip des Gemeineigentums wieder einzuführen, ausgehend von flexiblen und anpassungsfähigen Vorschlägen für postkoloniale Architekturruinen. In den Büchern fanden sich Pläne für den Umbau von Betonklötzen zu Lebensraum für Zugvögel und für die Umwidmung der Checkpoints zu Gemeindebingozentren und Cafés neben Texten, in denen spekulative Fragen zur Notwendigkeit, eine Wiederholung früherer kolonialer Machtstrukturen in der neuen palästinensischen Architektur zu vermeiden oder die verlassenen israelischen Gebäude einfach zu zerstören, behandelt wurden. Die dezidiert utopischen Vorschläge sollen politisch umsetzbar sein und die Dringlichkeit einer konstruktiven Fantasie innerhalb des Raumes der israelischen – und im Kontext der Ausstellung: der kapitalistischen – Kolonisierung fördern. Benachbarte Arbeiten verbanden sich produktiv mit diesen Hoffnungen, so etwa Michel Journiacs bemerkenswerte Prä-Cindy-Sherman-Fotografien der Körperselbsttransformationen des Künstlers („Homage to Freud“, 1972–84) und Nilbar Güres¸’ „Unknown Sports“ (2008–09), Porträts von Frauen, die ihre Körper in geschlechterüberschreitenden Formen des Fitnesstrainings neu erfinden, womit fantasievolle Formen eines Lebens jenseits der Unterdrückung sichtbar wurden.

Sind dies alles nichts weiter als ästhetische Szenarios innerhalb eines pseudoradikalen konsumistischen Spektakels? Während WHW schreibt, „dass eine gerechte Weltordnung und Verteilung der wirtschaftlichen Güter und Dienstleistungen möglich und absolut notwendig ist – und dass der Kommunismus noch immer der einzige Name für dieses erstrebenswerte Projekt ist“ [6], traten die Kuratorinnen nicht mit dem naiven Anspruch auf, dass ihre Ausstellung oder die gezeigten Werke einfach einen politischen Wandel herbeiführen oder eine grundlegende Veränderung des Status quo der politischen, kulturellen, ökonomischen neoliberalen Globalisierung bewirken sollten. Dennoch sind Ausstellungen wie diese meiner Meinung nach nicht wirkungslos. Sie dienen vielmehr einem Projekt, das mit dem Namen Metapolitik bezeichnet werden könnte, das heißt einem politischen Engagement jenseits von Regierungspolitik (wie es in Jacques Rancières Schriften zum Ausdruck kommt), das nicht einfach abgetan werden darf, da es in einer Zeit, wo nur wenige Bezugspunkte für eine wirkungsvolle politische Mobilisierung vorhanden sind, eine wesentliche Quelle des politischen Überlebens darstellt. Im Übrigen sollte man die Unterstützung des sozialen Aktivismus durch künstlerisch-politische Imagination nicht als kontraproduktiv ansehen. Während die Biennale in ihrem Programm durchaus ein größeres Bewusstsein für die Geschichte der Unterdrückung durch den Kommunismus hätte beweisen können, und sei es nur, um dem Versuch seiner Neuerfindung größere Glaubwürdigkeit zu verleihen, war der Entwurf von WHW mutig, der sich wesentlich von dem neoliberalen Konsens entfernt, wie er sich nach 1989 überall in den ehemaligen Ostblockstaaten und im Nahen Osten durchgesetzt hat. Wenn wir Ästhetik als etwas definieren, das seine eigene Form der Politik in sich birgt – das heißt nicht als ein Mangel oder ein kompensatorisches Supplement, sondern als produktive Kraft eigenen Rechts –, dann hat die Ausstellung von WHW erfolgreich neue produktive Antworten auf Brechts ernüchternde Frage gegeben.

Robert Schlicht

Anmerkungen

[1]Das Kollektiv besteht aus den Kuratorinnen Ivet Curlin, Ana Devic, Nataša Ilic, Sabina Sabolovic und der Designerin Dejan Kršic.
[2]Der im Katalog vollständig abgedruckte Refrain lautet: „What keeps mankind alive? The fact that millions are daily tortured, stifled, punished, silenced, oppressed. Mankind can keep alive, thanks to its brilliance in keeping its humanity repressed. For once, you must try not to shirk the facts: Mankind is kept alive by bestial acts.“ (11th International Istanbul Biennial: What Keeps Mankind Alive? The Texts, hrsg. v. WHW, Ausst.-Kat. Istanbul Foundation for Culture and Arts, 2009, S. 477) Im Deutschen lauten die Verse: „Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich / Den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frißt. / Nur dadurch lebt der Mensch, daß er so gründlich / Vergessen kann, daß er ein Mensch doch ist. // Ihr Herren, bildet euch nur da nichts ein / Der Mensch lebt nur von Missetat allein!“ (Bertolt Brecht, Werke, Bd. II: Stücke 2, Berlin/ Weimar/Frankfurt/M. 1988, S. 285).
[3]What Keeps Mankind Alive?, a.a.O., S. 120.
[4]In dieser Hinsicht fand ich Zmijewskis Installation in Istanbul wirkungsvoller als die jüngste Präsentation der Arbeit in der Berliner DAAD-Galerie, wo der Ton der einzelnen Videos nur über Kopfhörer zu hören war.
[5]Das Zitat stammt aus: Giorgio Agamben, Profanierungen, Frankfurt/M. 2005.
[6]What Keeps Mankind Alive?, a.a.O., S. 101.