Living In A Box Ein Email-Austausch mit Miwon Kwon
Beatrice von Bismarck: Wie gelungen erscheinen Ihnen die räumlichen Differenzierungen der Documenta11? Und wo würden Sie, was die Behandlung ästhetischer und sozialer Räume betrifft, die Documenta11 innerhalb der Diskurse über zeitgenössische Kunst verorten?
Miwon Kwon: Bei der Documenta11 schien es mir, als habe dieser von Ihnen genannte Effekt von "Räumen innerhalb von Räumen" durchaus eine durchdachte und ausreichend komplexe Sicht auf zeitgenössische Kunst und auf die Welt bieten können. Die sozialen und diskursiven Öffnungen, von denen Sie sprechen, finden ohnehin nicht mehr in erster Linie in Ausstellungsräumen statt. Sie geschehen im Umfeld des Ausstellungsorts und durch ihn hindurch. Und bei Ausstellungen dieser Art geht es sowieso letzten Endes nicht um die Kunst. Sie funktionieren weniger als Beweisführung einer kulturellen Entwicklung, eher wie eine Entschuldigung. Außerdem bedeutete auch, bei all den projizierten Räumen anderer Orte und Situationen, mit denen man sich dort auseinander setzen musste, in der Präsenz einer Arbeit zu sein, anderswo zu sein; in Kassel zu sein konnte bedeuten, zugleich anwesend und nicht anwesend zu sein. Ich fand interessant, wie die Künstler/innen und ihre Arbeiten positioniert wurden, um das "Lokale" zu repräsentieren, wobei sie sich oft mit spezifischen, persönlichen Erfahrungen regionaler oder nationaler Verhältnisse auseinander gesetzt haben, wodurch die Ausstellung als ganze eine globale Sichtweise annahm. Und das unterscheidet sich vielleicht gar nicht so sehr von vergangenen, breiter angelegten Versuchen, eine vereinheitlichte Weltsicht vorzustellen, wie etwa bei den Ausstellungen "Family of Man" und "Magiciens de la Terre". Aber was mir an der Documenta11 gefallen hat, war gerade das Fehlen von übergreifenden, vereinheitlichenden oder universalisierenden Ansprüchen. Das Weltgefühl, das in ihr aufschien, hat sich, zumindest für mich, als eines der Instabilität, des Bruchs, des Schmerzes, der Abtrennung dargestellt. Was ebenso wichtig und herzergreifend war, Kunst trat dort als tragisch-heroischer Versuch auf, diese Situation zu verstehen oder sich mit ihr auseinander zu setzen. Ich war überrascht, dass mich diese Erfahrung der "Räume innerhalb von Räumen"- gar nicht gestört hat. Mir schienen die Beiträge mit großer Aufmerksamkeit angeordnet - es kam mir nicht wie die beliebige Aneinanderreihung vor, wie ich sie schon in anderen Ausstellungen erlebt habe. Von solchen Riesenausstellungen, die auf einer mir unvorstellbaren Ebene logistischer und pragmatischer Notwendigkeiten operieren, erwarte ich eigentlich gar keine besonderen gedanklichen Subtilitäten, keine besonders tief gehende ästhetische Auseinandersetzung. Es ist wie bei einer Messe, ich erwarte also gar nicht mehr. Aber bei der Documenta habe ich mehr bekommen, als ich erwartet hatte, und das hat mir gefallen, ich kam mir sogar wie belohnt vor. Was die Entscheidung über die Platzierung einzelner Arbeiten betrifft, habe ich keine ausreichenden Kenntnisse, um etwas über die Aufteilungen zwischen den verschiedenen Gebäuden und Orten der Ausstellung sagen zu können. Es schien allerdings, als seien kollektive Formen künstlerischer Arbeit, wie Park Fiction etwa, in der Documenta-Halle gesammelt worden, und einige Bekannte sagten, sie empfänden das als eine Art Ghettoisierung. Aber dann weiß ich wiederum auch nicht, ob nicht die Teilnahme an der Documenta in gewisser Weise auch eine Ghettoisierung bedeutet. Ich denke, dass die Trennung der einzelnen Arbeiten in "Raumkonstruktionen" auch viel mit der Art künstlerischer Arbeiten zu tun hatte, die dort im Vordergrund standen - Video, Film und andere Projektionstechniken, die nicht nur einen abgeschlossenen Raum, sondern sogar einen abgedunkelten notwendig machen. Die Aufwertung kinematischer Produktions- und Präsentationsweisen lässt es sinnvoll erscheinen, über den Gebrauch von Zeit ebenso nachzudenken wie über den Gebrauch von Raum. Der gewaltige Platz, der zum Beispiel Hanne Darbovens Werk gegeben wurde, schien keine höheren Ansprüche oder Wichtigkeitsbehauptungen zu formulieren als einige der Filmarbeiten, die länger als dreißig Minuten dauerten.
Von Bismarck: Der Effekt der "Raumkonstruktion innerhalb von Räumen"- kann auch als Reflex eines Vertrauens auf die symbolische Bedeutung und Funktion künstlerischer Arbeiten gesehen werden. Das wirft die Frage auf, inwieweit dies mit einem Rückzug aus einer tatsächlichen Involvierung oder Einflussnahme auf die kontextuellen Bedingungen künstlerischer Praxis zu tun hat ...
Kwon: Wenn Sie damit Versuche - von Künstler/innen, aber auch Kurator/innen - ansprechen, sich in ihrer Arbeit mit den Rahmenbedingungen der Ausstellung selbst zu beschäftigen - wenn Sie also danach fragen, ob das Paradigma der "Raumkonstruktion" Kontextbewusstsein und selbstreflexive Gesten eher ermöglicht oder eher verhindert, dann würde ich sagen, dass eine solche Frage für mich bereits eine bestimmte Praxis privilegiert, nämlich diejenige der Institutionskritik, und dass sie auch zu einer vorhersagbaren Antwort führt. Die erwartete Antwort wäre, dass die vereinzelte Form der Präsentation eine Art Regression darstellt, einen Rückzug auf konventionelle Verfahrensweisen, die den Kontext zu stark außer Acht lässt - und Kunst zeigt, die ebenso bedenkenlos verfährt. Ich weiß nicht, ob es vielen Künstler/innen vielleicht ebenso geht wie mir: Mich ermüden einige der eingeführten institutionskritischen Verfahrensweisen ein wenig. Aber viel von der Kunst, die ich hier gesehen habe, schien auf einen weiteren Kontextbegriff zu deuten als den auf einen institutionellen Rahmen (in diesem Falle die Documenta) bezogenen. Ich glaube nicht, dass das etwas mit Nachlässigkeit von Seiten der Künstler/innen oder Kurator/innen zu tun hat, eher mit unterschiedlichen Prioritäten. Eine Arbeit muss, wie ich meine, keinen Konflikt innerhalb einer Ausstellung erzeugen, um für die Ausstellung Bedeutung zu haben. Wie gelungen auch immer, viele Arbeiten haben soziale Konflikte, die schmerzlichen Auswirkungen überkommener Geschichte, die Auswirkungen von Naturkatastrophen, politische und psychologische Traumata in den verschiedensten Teilen der Welt aufgezeigt; sehr wenigen ging es dagegen um die Documenta11 selbst als ein Ort solcher Konflikte, Geschichten und Auseinandersetzungen. Und das hat mir, ehrlich gesagt, gefallen. Für mich war eine der beeindruckendsten Arbeiten Raymond Pettibons Installation aus Wandzeichnungen, Skizzen, Zeitungsausschnitten und Texten. Einerseits konnte man diese Arbeit als selbstmitleidigen Erguss von Verzweiflung und Elend sehen, der mit dem Mythos des verrückten Künstlers als einer isolierten Gestalt, einem Opfer kultureller Traumatisierung konform ginge, der uns anderen die Wirkungen dieses Traumas zumutet. Andererseits waren für mich der Wahnsinn, das Perverse und die Gewalt, die diese Arbeit verkörperte und darstellte, die beste Kritik der Geschehnisse des 11. September, die ich kenne. Es war wirklich bewegend. Und in einem solchen Fall würde ich sagen, dass die "Raumkonstruktion" für die Betrachter/innen sehr hilfreich ist, sich eine weitere kontextuelle Sichtweise der Documenta11 vorzustellen. Die Aufmerksamkeit auf die Rahmenbedingungen des Veranstaltungsorts zu lenken, kann auch zu einer "auftrumpfenden" Geste werden, und für sich gesehen auch zu einer Art, das Gespräch hermetisch im Kunstkontext einzuschließen, und solche Verfahrensweisen langweilen mich. Dann fand ich allerdings auch, dass Thomas Hirschhorns außerhalb des üblichen Ausstellungskontexts angesiedeltes und community-orientiertes Projekt zumindest viel dazu getan hat, um auf die räumliche Beengtheit und soziale Begrenztheit eines Programms wie das der Documenta, um auf die "Marginalisierten" hinzuweisen. Aber meine Reaktionen auf solche künstlerischen Selbstmarginalisierungs-Strategien sind eher zwiespältig - die Zurückweisung vorgegebenen institutionellen Raums und die Bevorzugung eines Außenpostens in der "realen Welt" mit der Begründung, das sei authentischer -, und in diesem Fall ist es wohl zu kompliziert, um hier darauf einzugehen.
Von Bismarck: Wo würden Sie - vor dem Hintergrund Ihrer Forschungsarbeiten zur "site specificity" - Berührungspunkte zwischen ortsspezifischer Arbeit und dem Präsentationsformat der Gruppenausstellung sehen?
Kwon: Für mich stellt Ortsspezifität eine künstlerische Produktions- und Präsentationsweise dar, die nicht von Autonomie ausgeht, sondern innerhalb des Werks die Kontextbedingungen und die Bezugsmöglichkeiten auf verschiedene ökonomische, politische, gesellschaftliche und kulturelle Register reflektiert. Die Gruppenausstellung ist vor allem eine Präsentationsweise und gehört so begrifflich zu einer anderen Kategorie. Wenn Sie fragen, ob die Documenta als ein ortsspezifisches Projekt vorstellbar wäre, würde ich Ja sagen. Aber was heute eine solche Setzung bedeutet, hängt davon ab, wie man "Kontext" oder "Ort" definiert. Ich denke auch, dass eine kuratorische Vorstellung von Kontexten und Ausstellungsbedingungen sich deutlich von einem künstlerischen Verständnis dieser Begriffe unterscheiden dürfte. Ich war vorher bei keiner anderen Documenta, so dass ich keinen wirklichen Vergleich anstellen kann, aber ich fand, dass diese Documenta durch ihre Auswahl den Eindruck eines historischen und politischen Selbstbewusstseins - das von einigen Kritiker/innen "theoretisch" genannt wurde - vermittelt hat, ohne dieses Bewusstsein in den Mittelpunkt zu stellen - was mir zugesagt hat.
Von Bismarck: Wenn eine ortsspezifische Arbeit sich auf den verschiedenen Ebenen, die Sie eben skizziert haben, als reflexiv versteht, dann kann das auch eine Auswirkung auf die anderen Teilnehmer/innen an einer Gruppenausstellung haben - auf die ästhetisch, funktional, sozial definierten Räume wie auf die unterschiedlichen diskursiven Standpunkte innerhalb der Ausstellung. Was wären - historische oder zeitgenössische - Arbeiten oder Projekte, für die solche Wirkungsverhältnisse relevant waren?
Kwon: Mir fällt da Michael Ashers Projekt für das Art Institute of Chicago von 1979 ein, bei dem er eine George-Washington-Statue aus dem Außenraum in eine Galerie versetzte, die Kunst des 18. Jahrhunderts zeigte. Diese Arbeit entstand im Kontext einer Gruppenausstellung von fünfzehn zeitgenössischen Künstler/innen, der 73rd American Exhibition. Wie Sie wissen, stellt Asher niemals isolierte Einzelwerke aus, er reagiert immer auf eine spezifische Situation, die sich ihm bietet. In diesem Fall hat er sich aus dem Kontext der Gruppenausstellung "herausgenommen" und hat einen anderen Ausstellungsraum genutzt. Aber dadurch und durch seinen Verweis auf einen anderen Raum innerhalb desselben Museums, der einer anderen Art Kunst vorbehalten war (angewandte Kunst des 18. Jahrhunderts), übte er eine verunsichernde Wirkung auf den Einzelstatus (wenn nicht sogar die Kontextlosigkeit) der zeitgenössischen Arbeiten in der Gruppenausstellung aus. Ich denke, hier wird die Vorstellung der Gruppenausstellung selbst resituiert. Ich habe Ashers konzeptuelle Präzision und Ökonomie der Mittel immer bewundert, leichte Berührungen, die aber Anlass geben, Dinge ganz neu zu überdenken. In den meisten Fällen scheint "ortsspezifische" Kunst heute auf das Gegenteil hinauszulaufen: schwerfällige, überproduzierte Projekte, die ein seichtes Denken oder Effekthaschereien hervorrufen. Was ich an Ashers Arbeitsweise auch bewundere, ist das Fehlen jedes offenen Antagonismus.
(Übersetzung: Clemens Krümmel)