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Aufräumen: Raum-Klassiker Neu Sortiert Ralph Ubl über Lefebvre, Augé / Beatrice von Bismarck über Foucault, De Certeau / Juliane Rebentisch über O'doherty, Heidegger / Beate Söntgen über Adorno, Merleau-Ponty / Clemens Krümmel über Bachelard, Borges

Jacques Tati, "Playtime", Filmstill, 1967 Jacques Tati, "Playtime", Filmstill, 1967

Wie brauchbar ist eigentlich der vielzitierte Heterotopien-Text von Foucault? Und für wen? Muss man den ganzen Lefebvre lesen? Was hat Heidegger mit O'Doherty zu tun? Wie poetisch ist der Raum? Und wie viel Innerlichkeit ertragen wir? Die hier gesammelten Antworten sind Ergebnisse einer von den hier versammelten Rezensent/innen gemeinsam geführten Diskussion. Hauptfrage ist bei allen die nach der heutigen Aktualität klassischer Raumtheorien.

Raumskeptiker - Lefebvre und Auge

Die euphorische Aufnahme, die Henri Lefebvres "Production de l'espace" (1974, engl. 1991) in die anglo-amerikanische Raumdiskussion (E. Soja, K. Ross u.a.) fand, lässt sich nach Lektüre des über 450 Seiten träge mäandernden Textes nur schwer erklären. Die obsolete Entfremdungstheorie, die ihr korrelierende Idealisierung der antiken Stadtstaaten und der traditionelle Begriff vom Kunstwerk als œuvre, das dem bloßen Produkt entgegengesetzt ist, haben seine Wirkung offenbar nicht beeinträchtigt. Auch wurde hingenommen, dass die Analyse des "phallisch-geometrisch-visuellen Raumes" der kapitalistischen Moderne auf einem Eintrag aus dem Wörterbuch der Gemeinplätze beruht: Hochhäuser künden von "männlicher Brutalität". Von diesen und anderen manifesten Mängeln konnte abgesehen werden, da "Production de l'espace" weniger aufgrund seiner begrifflichen Schärfe oder argumentativen Kohärenz, sondern vor allem als ein zwar uneingelöstes, dafür umso besser anwendbares Programm verstanden wurde - das Programm, den Raum (und nicht die Zeit) als Medium sozialer Veränderungen zu denken.

Lefebvre trat (nicht als erster, aber mit einem unvergleichlichen Rundumschlag) einer Raumskepsis im marxistischen Denken entgegen, die in der "Dialektik der Aufklärung" auf eine Formel gebracht wurde, der auch noch Lefebvres direkter Gegenspieler Debord zugestimmt hätte: der Raum als absolute Entfremdung. Lefebvre teilte die Diagnose, dass mit dem modernen Kapitalismus die Herrschaft des Raumes über die Zeit angebrochen sei. Eine gesellschaftliche Praxis könne sich aber nicht auf Wiedergewinnung der Zeit als (eschatologische) Geschichte konzentrieren, sondern müsse sich vielmehr zu dem bekennen, worauf politische Militanz ohnehin immer zielte: die Aneignung von Räumen.

Wie bei allen gewichtigen Büchern, so ist auch bei "Production de l'espace" der Genitiv im Titel zweifach auszulegen: Der Raum ist Produkt und Produzent, auch und vor allem von sozialen Widersprüchen. Deshalb wird er zum Gegenstand der Staatsgewalt (Urbanismus, Raumplanung, Wohngesetze, Investitionen in Infrastruktur usw.). Seiner Homogenisierung zum Trotz überdauern stets verschiedenartige Residuen - so als wäre die glatte Oberfläche nur die äußerste Schicht eines Blätterteigs. Wenn Lefebvre weniger bildhaft formuliert, wie z.B. in "Révolution urbaine" (1970, dt. 1972), spricht er von der europäischen Stadt, die von Vororten, Grünanlagen, Autobahnen aufgezehrt und unter dem Druck dieser kapitalistischen Umwälzung zum Subjekt einer wahren, Ökonomie und Alltag umfassenden Revolution werden könnte. Alle Hoffnung liegt in der (surrealistischen) Einsicht, dass das Urbane "eine reine Form ist: der Punkt der Begegnung." Anders als Fabrik oder Suburbia, wo die Homogenisierung des Raumes erfolgreich vollzogen werden konnte, bleibt die Stadt aufgrund ihrer sozialen, historischen und ökonomischen Diversität ein "differentieller Raum". Selbst die großen stadtplanerischen Ordnungsmaßnahmen des 19. und 20. Jahrhunderts konnten ihr nichts anhaben: "Der differentielle Raum behält Eigenheiten bei, die durch den Filter des homogenen Raums gegangen sind. Eine Selektion findet statt. Die Eigenheiten, deren die Homogenisierung nicht Herr werden konnte, bestehen fort, geben sich aber einen neuen Sinn."

Abbildung Aus Dem Buch "Tokyo Style" Von Kyoichi Tsuzuki Abbildung aus dem Buch "Tokyo Style" von Kyoichi Tsuzuki

Dieser Prozess einer Negation der Negation, in der sich das Differente als Differentes behauptet - unterschieden sowohl von sich selbst als auch vom phallisch-geometrisch-visuellen Raum -, evoziert einen dialektischen Zauber, der nostalgisch schimmert. Als Musterbeispiele des differenziellen Raumes werden antike Theaterbauten, gotische Kathedralen, Venedig oder das Quartier Latin angeführt. Die alteuropäischen Topografien und Flurbezeichnungen sichern der Stadt ihre Differenz zur industriellen Homogenisierung.

Ökonomie, Sozialisationsformen und vor allem Ästhetik der Übergangsräume abseits historischer Urbanität wurden im vergangenen Jahrzehnt häufig als "Nicht-Orte" diskutiert, angeregt durch Marc Augés "Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit" (1992, dt. 1994). Der französische Ethnologe, der zuvor ein Buch über die Métro verfasst hatte, widmet sich darin dem Raumbegriff einer "Ethnologie der Nähe". Während die traditionelle Ethnologie "Orte eingeschriebenen und symbolisierten Sinnes" untersucht, hat sie es nach ihrer Hinwendung zur "eigenen" Kultur des "übermodernen" Westens mit einem "Übermaß an Raum" zu tun. Zwischen Ort und Raum, dem Konkreten, Bedeutungsvollen und Geschlossenen einerseits, dem Abstrakten, Unbestimmten und Offenen andererseits, vermitteln Passagen. Zu diesen "Nicht-Orten gehören die für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen (Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen) ebenso wie die Verkehrsmittel selbst oder die großen Einkaufszentren oder die Durchgangslager, in denen man die Flüchtlinge kaserniert." Die ephemeren, in der Regel anonymen sozialen Beziehungen, die sich in Wartesälen oder im Stau bilden, verlangen nach einer Analyse, für die kein passendes Instrumentarium bereitliegt: "So wie die anthropologischen Orte Organisch-Soziales hervorbringen, so schaffen die Nicht-Orte eine solitäre Vertraglichkeit. Wie sollte man sich die Durkheimsche Analyse eines Wartesaales in Roissy vorstellen?"

Am Begriff, z.B. dem der solitären Vertraglichkeit, wird nicht weitergearbeitet. Augé verlässt sich auf seine Einfühlung. "Orte und Nicht-Orte" ist der Reisebericht eines Wissenschaftstouristen, der aufschlussreiche Beobachtungen enthält, doch ohne überzeugende historische oder analytische Distanzierung von den Erfahrungen, die er für so wichtig hält.

Die Einsamkeit in den Wartesälen der Flughäfen (von Flüchtlingslagern ist nicht mehr die Rede) biete eine "Erfahrung der ewigen Gegenwart und zugleich der Begegnung mit sich selbst." Zum Prototyp des modernen Vielfliegers wird Chateaubriand erklärt: Der französische Romantiker verliert sich beim Anblick antiker Ruinen in Reflexionen über seine Wahrnehmung und vollzieht so eine "Aufhebung des Ortes", die den ästhetischen Höhepunkt seiner Reise markiert. Der Flugreisende, der sein Gepäck abgegeben und die Passkontrolle hinter sich hat, muss erst in die Duty-free-Zone gelangen, ehe er endlich zu sich kommt. Anstatt einzukaufen (damit wäre der Nicht-Ort wieder als Ort bejaht) gibt er sich der "Disponibilität des Augenblicks" hin und sucht im Übergang vom Ort zum Raum einen reflexiven Genuss seiner momentan unterbeanspruchten Subjektivität.

Offensichtlich ist es keine neue Einsicht (sondern eine elementare Gedankenfigur moderner Subjektphilosophie), dass ästhetisch gestimmte Subjektivität einer Negation entspringt, die man unter Umständen als "Aufhebung des (anthropologischen) Ortes" beschreiben könnte. Augé kommt es denn auch mehr auf die zeitdiagnostische Pointe an, dass in den besagten Nicht-Orten jene Negation vollzogen und einer immer größeren Anzahl von Menschen dargeboten wird, die Chateaubriand noch seinem Künstlertum zu ver-danken hatte. Die Infrastruktur an der städtischen Peripherie erscheint unter diesem Gesichtspunkt als ein der ästhetischen Subjektivität gewidmeter Themenpark, in dem jeder ein verlorenes und auf diesem Wege zu sich kommendes Individuum werden darf, sofern Pass oder Kreditkarte seine Identität verbürgen und ihm Einlass gewähren.

Ralph Ubl

  • Henri Lefebvre, Production de l'espace, Paris: Anthropos, 1974
  • Marc Augé, Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag, 1994

Hoffnungsträger - Foucault und de Certeau

Mag sein, dass es ein eingelagertes Moment der Verheißung ist, das wesentlich zu der Popularität von Michel Foucaults Text "Andere Räume" beigetragen hat. Ein Versprechen auf Orte, die anders sind als die vorgefundenen, an denen sich im negativen wie im positiven Sinne die Verhältnisse als alternativ zu den bestehenden darstellen, als eine noch nicht eingelöste, aber einlösbare Option. Dieser Funktion des Hoffnungsträgers zuträglich ist auch die definitorische Offenheit seines Begriffs der "Heterotopie". Betrachtet man ihre ästhetisch, architektonisch, kulturell, psychisch, sozial, ökonomisch, politisch oder zeitlich bestimmten Aufgaben, finden sich ganz unterschiedliche Orte unter dieser Bezeichnung gruppiert: Züge, Kadettenanstalten, Gärten, Altersheime, Teppiche, Feriendörfer, Friedhöfe, Kinos, amerikanische Motels, Museen, Saunas, Jesuitenkolonien, Bordelle. Was sie eint, ist ihre Verschiedenheit von - allerdings sehr allgemein gefassten - gesellschaftlichen Verhältnissen. Erst in der Differenz zeichnen sich diejenigen Kriterien ab, die Foucault im Sinne einer Typologie der Heterotopien auflistet: generelle kulturelle Relevanz, funktionale Veränderbarkeit, Integration von Unvereinbarem, Heterochronie, Begrenztheit sowie illusionäre und kompensatorische Aufgaben. Diese Eigenschaften machen die Heterotopie - im Gegensatz zur Utopie als unwirklichem Ort - zum wirklichen Ort und gesellschaftlichen Widerlager. Eine Erläuterung dazu, wie diese Funktion ihre Wirkung entfaltet, sei es im Rahmen von Konstitutionsprozessen von Gesellschaften oder von Subjekten, bleibt Foucault allerdings schuldig. Gerade seine unscharfen Ausführungen zum Raum des Spiegels, als einer "Misch- oder Mittelerfahrung" zwischen Utopie und Heterotopie, machen das Fehlen dieser entwicklungsgeschichtlichen Perspektive besonders deutlich.

Stattdessen verfolgt Foucault ein statisches Konzept von Raum: im Sinne eines Bündels von Platzierungen. Er entwirft ein differenziertes Netz aus möglichen Beziehungen, die einen Raum im Inneren und im Verhältnis zum Außen ausmachen können. Auf dieser feinteiligen Auffächerung der verschiedenen Eigenschaften eines Raums und ihrer Funktionen beruht - mit Blick auf die um "Ortsspezifik" geführten Diskurse der neunziger Jahre - die aktuelle Relevanz des Textes. Mit ihr bietet sich die "Heterotopie" als Referenz einer über die physikalischen Gegebenheiten hinausgehenden Analyse von Orten an. Aber auch hier fehlt eine Subversion und Verschiebung zulassende Perspektive, denn es bleibt unklar, wer unter welchen Bedingungen und mit welchen Gestaltungsmöglichkeiten für die jeweilige Position der Platzierungen verantwortlich ist. Der auf Veränderungen zielende gestalterische Impetus vieler ortsspezifischer Vorgehensweisen findet lediglich eine schwache Resonanz. Er scheint im Modus des Potenzialis auf, der den 1967 gehaltenen Vortrag prägt, und kommt in keinem Bild besser zum Ausdruck als in dem des Schiffs, mit dem Foucault schließt: Hier, in der Fahrt des Schiffes von Ort zu Ort, deutet sich das Moment der Dynamik an, das, abgesehen von der Erwähnung von Übergangsritualen, ansonsten fehlt. Als "Imaginationsarsenal" und Garant für Träume wird das Schiff, für ihn "die Heterotopie schlechthin", zum Ort des Möglichen und der Kritik.

Patent Für Das Ladensystem Von Piggy Wiggly, 1917 Patent für das Ladensystem von Piggy Wiggly, 1917

Foucault verbannt damit letztlich die an die Bewegung geknüpften Möglichkeiten aus dem Bereich des Realen in den des Imaginären. Demgegenüber versteht Michel de Certeau das Veränderungspotenzial von Räumen gerade an das Reale gebunden. Seine "Praktiken im Raum" definiert er entlang eines dualistischen Schemas auf zwei Ebenen: auf derjenigen der Körperbewegungen und der narrativer Handlungen. Am Beispiel der unterschiedlichen Raumerfahrungen New Yorks, die man machen kann, wenn man entweder von oben - ausgerechnet vom World Trade Center - auf die Stadt herabblickt oder wenn man sich unten in ihren Straßenschluchten befindet, stellt er in einem ersten Schritt Wahrnehmungen des Auges und des Körpers einander gegenüber. Der Distanz des aus der Ferne betrachtenden Voyeurs, der keine aktive Rolle im Spiel zwischen den Hochhäusern übernimmt, stellt de Certeau das "In-der-Welt-Sein" des von dem urbanen Gefüge aufgenommenen Mitspielers gegenüber. Während er die eine Position dem "Blick eines Gottes" gleichsetzt, heftet er die andere an den alltäglichen, gewöhnlichen Benutzer. Die hier nahe gelegte Hierarchie zwischen oben und unten, zwischen dem luftigen Ausblick und dem Gang in den Niederungen, hält sich jedoch nur vorübergehend, denn de Certeaus Argument zielt auf eine ganz gegensätzliche Wertung: Das Visuelle, welches Planung, Programmierung, Theoriebildung, geometrische und geografische Vermessung und Aufzeichnung ermöglicht, sucht er zu entkräften, da es die Voraussetzung für Kontrolle und Disziplinierung darstellt. Der gelebte, körperlich, im Gehen erfahrene Raum kann solcher potenziellen Machtausübung entgehen, da ohne den Distanz voraussetzenden Blick der Raum nicht mehr sichtbar und undurchschaubar zugleich werde. Anstatt auf das Auge verlassen sich seine Benutzer auf ein körperliches, "blindes" Wissen. Lässt man die Ungenauigkeiten außer Acht, die sich hier für Subjekt- und Objektpositionen im Bereich des Visuellen ergeben, so ist de Certeaus Charakterisierung dieser Handlungen als einzigartig, widersprüchlich, vielgestaltig und mikrobenartig entscheidend. Dank dieser Eigenschaften erweisen sie sich gegenüber vorgezeichneten Spuren, Konzepten, Gebrauchsweisen und Codes als resistent und subversiv gestalterisch.

Die Differenzierung, die de Certeau zwischen den Begriffen "Ort" und "Raum" vornimmt, setzt - unter handlungsperspektivischen Vorzeichen - dort ein, wo Foucaults Ausführungen abbrechen: Während sich für de Certeau der Ort aus momentanen Konstellationen von festen Punkten zusammensetzt, die den Platzierungen Foucaults entsprechen, ist sein Raum "ein Ort, mit dem man etwas macht". Er entsteht durch Handlungen und in der Behandlung, etwa durch die Aktivität des Gehens und Begehens. Diese Prozesse der Alltagspraxis erhalten ein gestalterisches Potenzial, das de Certeau in seinem zweiten Argumentationsschritt in Entsprechung zu narrativen Bewegungen, die für ihn Erzählungen konstituieren, setzt. Zwar geht seinen Worten nach die Erzählung der Handlung als deren Legitimierung und Begründung voraus; aber beide definiert er als Formen der Aneignung, die Orte in Räume und vice versa verwandeln können, die sich dem einzelnen Ort und den jeweils dort gültigen Codes gegenüber als respektlos erweisen, die dem Zustand den Prozess vorziehen und sich damit der Fixierung und Kontrolle entziehen. Sowohl die Erzählung als auch implizit die Aktivität des Gehens vollziehen dabei kontinuierlich Prozesse der flexiblen Grenzsetzung, die de Certeau ausblickend nahe an illegale Abweichung und Verbrecherisches rückt - eine Umwertung, die eine Perspektive vor allem für die aktuelleren Entwicklungen der in den neunziger Jahren generierten Überschreitungsdiskurse anbietet.

Beatrice Von Bismarck

  • Michel Foucault, Andere Räume, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt/New York: Campus, 1991.
  • Michel de Certeau, Praktiken im Raum, in: Kunst des Handelns, Berlin: Merve, 1988. S. 177-238.

Ortsspezialisten - O'Dòherty und Heidegger

Nachdem sich die Kunst in den sechziger Jahren von der traditionell ihren Status absichernden Konvention der Einteilung nach Kunstgattungen befreit hatte, konnte es so scheinen, als bestimme nun der institutionelle Kontext darüber, ob etwas Kunst ist oder nicht. "Im Guten wie im Schlechten", schreibt Brian O'Doherty 1976 in seinem mittlerweile legendären Essay "Inside the White Cube", "ist [der White Cube] die einzige bedeutende Konvention des Kunstlebens." (S. 90) Und tatsächlich rückte die weiße Zelle der Galerie oder des Museums Anfang der siebziger Jahre ins Zentrum der künstlerischen Aufmerksamkeit. Und zwar in zweifacher, miteinander verschränkter Hinsicht: im Sinne der mit ihr verbundenen Ausstellungskonventionen und im Sinne ihrer gesellschaftlichen Funktion. Die Einsicht in den Sachverhalt, dass jede Erfahrung eines Kunstwerks, wie Adorno in der "Ästhetischen Theorie" bündig formuliert hat, zusammenhängt "mit dessen Ambiente, seinem Stellenwert, seinem Ort im wörtlichen und übertragenen Sinn" [1], ist heute unhintergehbar. Entsprechend zielt zeitgenössische Kunst oftmals auf die thematische Verschränkung von buchstäblichem und gesellschaftlichem Ort. Sie reflektiert ihre gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, indem sie formal in architektonische oder landschaftliche Begebenheiten interveniert. Nun können aber die in diesem Sinne ortsspezifischen Arbeiten mit dem einfachen Verweis auf den doppelten Kontext, den sie an sich selbst thematisieren, nicht auch schon selbst angemessen erklärt werden. Gerade mit Blick auf diese Phänomene wäre es meines Erachtens an der Zeit, den vulgärduchampianischen Schluss zu kritisieren, der aus der Einsicht, dass Kunst kontextabhängig ist, folgert, dass mit dem Hinweis auf den Kontext auch schon alles Wesentliche über diese gesagt sei.

Martin Heidegger, "Die Kunst Und Der Raum", 1967, Plattencover, Vorderseite Martin Heidegger, "Die Kunst Und Der Raum", 1967, Plattencover, Rückseite Martin Heidegger, "Die Kunst und der Raum", 1967, Plattencover, Vorder- und Rückseite

Statt O'Doherty hilft an dieser Stelle - angesichts von dessen programmatisch vertretenem Provinzialismus und seiner immer auch unfreiwillig komischen, weil absolut humorlosen Eigentlichkeitsrhetorik wohl überraschenderweise - Heidegger weiter. Und zwar mit einem kleinen, 1969 erstpublizierten Text zum Verhältnis von Kunst und Raum. Liest man diesen Text mit einer gewissen Gewaltsamkeit gegen Heidegger gnadenlos dekonstruktiv, vermag er einen ersten Aufschluss zu geben über die Eigenlogik der Kunst gegenüber ihren konkreten und soziologischen Ortsbestimmungen. Denn Heidegger erläutert am Beispiel der Plastik ein spezifisch ästhetisches Ineinanderspielen von Kunst und Raum, das sich auch für ein ästhetisches Verständnis ortsspezifischer Kunst fruchtbar machen lässt. Für dieses ist zunächst ein phänomenologischer Raumbegriff grundlegend, dem zufolge der Raum den Orten nicht vorgängig ist (wie man nach dem herrschenden, durch Galilei und Newton bestimmten, mathematisch-physikalischen Raumbegriff meinen könnte), sondern sich umgekehrt erst durch die Orte erschließt, die den Dingen in der Praxis einer Lebensform zukommen. So konstituieren Heidegger zufolge Dinge, zum Beispiel plastische Kunstwerke, Orte, von denen her sich Raum erschließt. Dieser durch die Dinge lebensweltlich eingeräumte Raum ist ein konstitutiv von Bedeutung durchzogener Raum; er gehört zu einer jeweiligen Welt. Der Clou an Heideggers Überlegungen zum Ineinanderspiel von Kunst und Raum ist nun aber nicht schon diese auf "Sein und Zeit" zurückgehende Phänomenologie der Orte und Räume. Er liegt vielmehr in Heideggers Betonung einer Zweideutigkeit im Begriff des Einräumens, die sich (gegen ihn) als Hinweis auf eine Eigenart der Kunst gegenüber den gewöhnlichen Dingen verstehen lässt. Einräumen, so Heidegger in "Die Kunst und der Raum", muss nämlich in der "zwiefachen Weise des Zulassens und des Einrichtens" verstanden werden (S. 9). Die plastische Gestalt sollte nach Heidegger nicht als feste Gestalt missverstanden werden, die dann, gleichsam in einem zweiten Schritt, mit "dem" Raum in Verbindung gebracht werden kann. Vielmehr konstituiert sich die plastische Gestalt unter anderem in der Korrespondenz mit dem, was sie durch diese Korrespondenz als "Gegend" einräumt. Eben dieses Einräumen sollte aber nun nicht einseitig als "Einrichtung" von signifikanten Verweisungszusammenhängen verstanden werden, sondern zugleich auf das "Zulassen" von Offenem bezogen werden. Weder können die durch die Plastik eingerichteten Korrespondenzen mit der Umgebung objektiver Teil des Werks sein noch aber kann dieses objektiv einfach abgetrennt von jener "für sich" gesehen werden. Deshalb bleibt die in den Prozessen der ästhetischen Erfahrung sich vollziehende Einrichtung von bedeutungshaften Zusammenhängen notwendig auf einen gegenstrebigen Prozess bezogen, in dem diese Verweisungszusammenhänge immer wieder aufgelöst werden: Offenes zugelassen wird. Eben dadurch verschwindet der ästhetisch eingeräumte Raum - anders als derjenige der Gebrauchsdinge - auch nicht einfach in einer "unauffälligen Vertrautheit" [2], sondern tritt im Gegenteil in seinem Darstellungspotenzial hervor. Eben diese Logik, nach der eine künstlerische Arbeit ihre Umgebung semantisch auflädt, ohne dass sich doch je ein bestimmter Kontext feststellen ließe, der ihr Verstehen endgültig zu sichern imstande wäre, macht auf ein Strukturmoment von Kunst aufmerksam, das es lohnte, mit dem Begriff der Ortsspezifik zusammenzudenken: das ihrer Ortlosigkeit. Durch dieses Moment nämlich wird das kritische Potenzial ortsspezifischer Arbeiten nicht geleugnet, sondern erhält eine präzisere Bestimmung. Es sitzt nicht bereits objektiv in den Werken selbst, sondern öffnet sich erst in der "verflochtenen Korrespondenz" (Derrida) zwischen Werk und Betrachter.

Juliane Rebentisch

  • Martin Heidegger, Die Kunst und der Raum, St. Gallen: Erker, 1969.
  • Brian O'Doherty, In der weißen Zelle/Inside the White Cube, Berlin: Merve, 1996.

Anmerkungen

[1]Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S. 520.
[2]Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 104.

Einrichter - Adorno Und Merleau-Ponty

"Totes Haus Ur", die Installation, mit der Gregor Schneider den deutschen Pavillon der letzten Biennale in Venedig ausgestattet hat, ist prägnant für die Weise, in der vor allem jüngere Künstler/innen in den neunziger Jahren mit dem Wohnen umgegangen sind: als Bild unserer Weise des In-der-Welt-Seins, das im abgedichteten, klaustrophoben Innenraum seine Zuspitzung findet. Das wiedererwachte Interesse am Innenraum hat, glaube ich, zwei Gründe. Zum einen artikuliert sich in ihm eine Kritik an subjektzentrierten Weltentwürfen, zum anderen generiert die künstlerische Präsentation von Innenräumen Wahrnehmungsweisen, die den Primat des Sehens in der ästhetischen Erfahrung bestreiten. Die fortgesetzte künstlerische Auseinandersetzung mit dem Innenraum ist Anlass, sich auch den theoretischen Bearbeitungen des Wohnens zuzuwenden. Theodor W. Adorno hat sich, mit Benjamin im Gepäck, in seiner Kritik des Interieurs vehement gegen Vorstellungen gewandt, die die Geistestätigkeit des Subjekts als weltschaffende Instanz setzen. Maurice Merleau-Ponty dagegen verwendet die Metapher des Wohnens, um Wahrnehmung auf radikale Weise als Bedingung der Möglichkeit von Denken zu setzen, und zwar in ihrer Leiblichkeit, die wiederum als Räumlichkeit gefasst wird.

Abbildung Aus Einem Wohnbuch Der Fünfziger Jahre Abbildung aus einem Wohnbuch der fünfziger Jahre

Adorno entwickelt seine Kritik einer Philosophie der Innerlichkeit an Kierkegaard und dessen Leitmetapher "Interieur". Das Bild des Interieurs bringe die Grundbegriffe Kierkegaards auf den Punkt, heißt es bei Adorno. Man ahnt es, diese Beschreibung verspricht nichts Gutes. Das Interieur ist zugleich, so die bissige Feststellung, der reale Raum, der die philosophischen Kategorien Kierkegaards aus sich entlässt. Das Interieur, wie es bei diesem vorkommt, beschreibt Adorno als eine Figur der Abschließung, die sich allein im Modus des Entwerfens öffnet, nicht auf etwas anderes, sondern auf ein Außen hin, das nur eine Variation ihrer selbst ist. Keine dialektische Verschränkung von Außen und Innen also, sondern Verlust an Welt, Mangel an Konkretion. Ein Außen gibt es nur mehr als scheinhaftes Produkt einer Innerlichkeit, die keine Objekte braucht. Selbst die Anschauung ist auf subjektives Bedeuten reduziert, kurz: Jegliches Sein richtet sich nach dem Denken. Ununterscheidbar gehe das Außen im Innen auf, aufgesogen von Subjektivität - zumindest im Interieur als Metapher einer Innerlichkeit, wie sie die Philosophie Kierkegaards kennzeichnet, und man könnte sagen mit ihr die Einstellung des gesamten späteren neunzehnten Jahrhunderts.

Das Bild des Reflexionsspiegels, der die Straße, das Soziale in die Wohnung holt, macht deutlich, dass es in den ohnehin nur bildhaften Erscheinungsweisen des Außen im Innen keine Erstreckung von Wirklichkeit gibt, sie zieht sich vielmehr auf einen Punkt zusammen, der seinen Ort im Subjekt hat. Mangel an Konkretion bedeutet also auch, und vielleicht sogar vor allem, eine Eklipse des Raumes. Die Metapher "Interieur" birgt das Bild eines Raums, bringt diesen aber auch, und zwar gerade in ihrer spezifischen Wirkweise, zum Verschwinden. Räumlichkeit steht, so kann man umgekehrt schließen, bei Adorno für Konkretion. Das Interieur Kierkegaards ist raumlos - schärfer als mit dieser paradoxen Metapher hätte Adorno seine Kritik am Schein, wie ihn ihm zufolge die Philosophie Kierkegaards hervorbringe, nicht formulieren können.

Merleau-Ponty hat das Wohnen positiv besetzt. Er betrachtet es nicht im Bild des Interieurs, das für eine historische, in der Subjektphilosophie des 19. Jahrhunderts begründete Seinsweise figuriert, sondern als strukturales Phänomen, als Veranschaulichung unserer Existenz in ihrer leiblichen Bedingtheit. Unser Dasein sei immer schon weltzugewandt, orientiert auf einen lebensweltlich erschlossenen Raum, der in seiner Bedeutsamkeit geprägt ist von vorindividueller Geschichtlichkeit. Deren Sedimentierungen geben den orientierten Handlungen des Leibes Sinn, werden aber umgekehrt auch durch dessen Handlungen in ihrer Sinnhaftigkeit verändert. Der Leib und die Umgebung, in der er sich einrichtet, stehen sich nicht als getrennte kantische Objekte gegenüber, sie beziehen sich vielmehr aufeinander in einem gegebenen und erlebten Verhältnis. Praxis als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis hat den Vorrang vor aller Begriffsarbeit, denn diese ist ebenfalls an die Leiblichkeit unserer Existenz gebunden. Auch das Symbolvermögen, eine sinnstiftende Aktivität, ruht auf dem Sehen als leiblicher Orientierung in der Welt auf. Merleau-Ponty argumentiert mit dem Terminus der Bezogenheit struktural. Die Verflechtung von Innen und Außen, wie er sie begreift - eine Verflechtung, die im Paradox des empfindenden und empfindbaren Leibes deutlich hervortritt -, weist die Möglichkeit einer Trennung zurück. Sein Unternehmen ist die Beschreibung dieses Verhältnisses, nicht seine Kritik, denn diese gründet in Begriffen, die der Reflexion und nicht unbedingt den Bedingungen unserer Existenz, dem Leib und seiner Räumlichkeit, verpflichtet sind.

Bezogen auf Kunst, verschieben sich die Fragestellungen, was die Kritik der Innerlichkeit wie auch die Vorstellung einer leiblich gebundenen Verflechtung von Innen und Außen betrifft. Was geschieht mit der Scheinhaftigkeit des Innenraums, wenn dieser sich in einem Bild, einer Installation materialisiert? Und wie stellt sich die Verflechtung von Innen und Außen dar, wenn sie in die Distanz einer künstlerischen Präsentation rückt? "Rücksicht auf Darstellbarkeit" hat Freud die bildschaffende Aktivität der Traumarbeit umschrieben und gegen ein Abbildungspostulat die Eigengesetzlichkeit des Bildes geltend macht - ohne den Anspruch aufzugeben, etwas über Anlass und Grund des Bildes auszusagen.

Beate Söntgen

  • Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter, 1974
  • Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Wilhelm Fink Verlag, 1986

Tiger Auf Dem Dachboden - Bachelard Und Borges

Woraus nähren sich die ausschweifenden Raumfantasien der Moderne und der Gegenwart, in Literatur, bildender Kunst, Architektur und Film? Gemeint sind ebenso die modernistischen Cluster- und Modulexzesse der Architektur wie die endlosen Korridore und Raumparadoxien von Computerspielen, die Reise jenseits der Unendlichkeit vor dem Ende von "2001: A Space Odyssey" wie die Weltbeherrschungsfantasien des Museumskomplexes. Was macht ihren "Wirklichkeitsgehalt", was ihre Nähe zum Traum aus? Ist es wegen der Übereinstimmung mit einer subjektiven Erfahrungswelt zulässig, von "inneren Räumen" zu sprechen, oder verliert man sich auf diesem Weg in den dunklen Wäldern metaphysischer Spekulation? Können, wenn man also dieser Begrifflichkeit einmal folgt, "innere Räume" außerhalb des Sprachlichen vorgestellt werden? Schon deshalb, weil sie zu Textgattungen jenseits streng aufgefasster Theorie gehören, laden die Texte von Gaston Bachelard und Jorge Luis Borges, um die es hier gehen soll, dazu ein, sich über ein strukturierendes Element von Theorien Gedanken zu machen: Die besondere Evokationskraft von Texten, und hier besonders die Fähigkeit Räume zu evozieren.

Seit ihrem Erscheinen 1957 hat die "Poetik des Raumes" von Gaston Bachelard immer wieder Künstler/innen aller Art inspiriert, sich auf einer sehr allgemeinen, phänomenologisch-assoziativen Ebene des Denkens mit der Kategorie "Raum" zu beschäftigen. In diesem Buch kann der Versuch gesehen werden, gegen die moderne aporetische Definition von Raum eine Mischung aus Poetik und Topologie, eine konstruktive Sammlung der "Bilder des glücklichen Raums" zu geben, die nicht die traumatischen Seiten des Raumgefühls hervorkehrt, sondern konstruktive Bezugspunkte einer Raumanthropologie liefern will - und es ist nicht übertrieben zu behaupten, Bachelards "topophile" Raumbilder hätten durchweg positiven und konstruktiven Charakter, streckenweise sind sie auch wie ein Gegengift gegen die Agoraphobien seiner Gegenwart, namentlich gegen den Primat der psychoanalytischen Lehren zu lesen. Vor allem die ersten Kapitel, "Das Haus. Vom Keller zum Dachboden. Der Sinn der Hütte", "Haus und All", "Die Schublade, die Truhen und die Schränke", liefern Elemente einer Art universaler bürgerlicher Kosmologie, die in den folgenden Teilen des Buches Naturbildern weichen, dann von der "inneren Unermesslichkeit" sprechen und eine Dialektik des Draußen und Drinnen formulieren.

Jorge Louis Borges, Zeichnung Von Oswaldo Jorge Louis Borges, Zeichnung von Oswaldo

Die kaum zehn Seiten lange Erzählung "Die Bibliothek von Babel" von 1941 stammt aus dem Frühwerk des argentinischen Romanciers, Dichters und Essayisten Jorge Luis Borges. Abgesehen davon, dass sie viel von seiner späteren Obsession - der paradoxen Begeisterung für Ästhetiken des Fiktionalen und die Chiffren der Unendlichkeit eines enzyklopädischen Universums - vorwegzunehmen scheint, ist sie ansonsten eher untypisch für sein sonstiges Schaffen. Das mag auch an Borges' eigener distanzierender Bemerkung aus einem Interview von 1980 deutlich werden: "Diese Story habe ich geschrieben, als ich besonders versessen darauf war, Kafka nachzuäffen. Das war vor vierzig Jahren, und ich erinnere mich kaum noch an den Text." Doch hatte dieser kurze Text einen nicht unwesentlichen Anteil an seinem (noch immer sehr unvollständigen) Weltruhm. Vor allem seit den sechziger Jahre, als die ersten Übersetzungen in den Vereinigten Staaten erschienen, setzte eine schwunghafte Rezeption seines Erzählbandes "Ficciones" ein, und, um es vorsichtig auszudrücken, es waren nicht nur die materialistischsten Leser/innen, die sich fortan für Borges begeisterten. Das Evokative seiner zwischen Leugnung und Affirmation, zwischen nüchternem Deskriptivismus und absolutistischer Schwärmerei hin- und herflankenden Prosa fiel auf eine Imagination, die sich für die "Carceri d'invenzione" von Piranesi, aber auch die Grafiken von m.c. Escher begeisterte, und sie verfehlte auch in späteren Jahrzehnten seine Wirkung nicht.

Sofort zu Beginn findet eine Gleichsetzung von "Bibliothek" und "Universum" statt, gefolgt von der berühmten, an die Gedächtnistheater der Renaissance erinnernden Beschreibung der Bibliothek: Sie "setzt sich aus einer unbegrenzten und vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefasst sind. Von jedem Sechseck aus kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: ohne ein Ende. Die Anordnung der Galerien ist unwandelbar dieselbe. Zwanzig Bücherregale, fünf breite Regale auf jeder Seite, verdecken alle Seiten außer zweien [...]", und diese Beschreibung setzt sich bis in die feinsten Details einer umfassen wollenden Beschreibung, die aber an den entscheidenden Stellen immer wieder Unschärfen stehen lässt. Sehr gut vorstellbar, wie Westküsten-Leser zur Entstehungszeit von Silicon Valley bei solchen Stellen die Augenbrauen gehoben haben: "Als verkündet wurde, dass die Bibliothek alle Bücher umfasse, war der erste Eindruck ein überwältigendes Glücksgefühl. Alle Menschen wussten sich Herren über einen unversehrten und geheimen Schatz. Es gab kein persönliches, kein Weltproblem, dessen beredte Lösung nicht existierte: in irgendeinem Sechseck." Borges' Text mag für die Sechziger-Jahre-Leser wie die Rechtfertigung der damals geläufigen Floskel geklungen haben, die beiden Worte in "Science-Fiction" müssten nicht mehr als Widerspruch anerkannt werden. Später geisterte diese Bibliotheksbeschreibung - und wohl nicht nur aufgrund eines Missverständnisses, es handle sich um eine Apotheose des Wissens - noch durch die Hypertextschwärmereien, die Deleuze-Guattari-Zirkel und die Vernetzungsaktivismus-Foren. Gegenüber dem borgesianischen Raum (nicht in ihm) liegen die Räume von Franz Kafka, Philip K. Dick, Georges Perec, Italo Calvino, aber kein anderer Raum hat ein solches Nicht-Ende: "Jetzt, da meine Augen kaum mehr entziffern können, was ich schreibe, bin ich im Begriff, nur ein paar Meilen von dem Sechseck, wo ich geboren ward, zu sterben. Wenn ich tot bin, wird es nicht an mitleidigen Händen fehlen, die mich über das Geländer werfen werden; mein Grab wird die unauslotbare Luft sein; mein Leib wird immer tiefer sinken und sich in dem von dem unendlichen Sturz verursachten Fallwind zersetzen und auflösen. Ich behaupte, dass die Bibliothek kein Ende hat."

Clemens Krümmel

  • Gaston Bachelard, Poetik des Raumes (1957), Frankfurt/M.: Fischer, 1987.
  • Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel (1941), div. Ausgaben, hier zit. n.: ders., Die zwei Labyrinthe, Lesebuch, München: dtv, 1986, S. 54-63.

Zum Weiterlesen:

  • Cristina Grau, Borges et l'architecture, erschienen anlässlich der Ausstellung "L'Univers de Borges", Bibliothèque publique