Vorwort
Ob in Pariser Cafés oder Buchhandlungen: Gesprächsthema Nummer eins am Nachmittag vor ihrer Ausstrahlung war die Rede Jacques Chiracs nach den Regionalwahlen in Frankreich im März dieses Jahres zur drohenden Kooperation der konservativen Parteien mit dem Front National. Ein Szenario, das hierzulande unvorstellbar wäre: Alle eilen aufgeregt nach Hause in der Erwartung, daß Kohl im Fernsehen auftreten wird . . .
Diese unterschiedlichen Einstellungen gegenüber Politik haben weniger mit einer anderen „Mentalität" als mit einem historisch gewachsenen Selbstverständnis der Staatsbürger zu tun: Während in Deutschland die fatale soziologische Diagnose der Politikverdrossenheit Konjunktur hatte und politische Initiativen in der Tat mit Lähmungserscheinungen kämpften, kam es in Frankreich im Winter 1995 zu einer Streikwelle, die Hoffnungen und Ängste im öffentlichen Bewußtsein reaktivierte, die mit dem „Mai '68" verbunden werden.
Der jüngst verstorbene Philosoph JeanFrançois Lyotard hat in einem anderen Zusammenhang zu bedenken gegeben, daß die Franzosen das einzige Volk seien, das seinen König geköpft und eine Revolte tatkräftig selbst initiiert habe. Vor diesem Hintergrund erklärt sich vielleicht die Wahrnehmung der Regierung als ein Gegenüber, gegen das man sich gegebenenfalls auch zur Wehr setzt.
So waren es auch die politischen Ereignisse in Frankreich — angefangen bei der Streikbewegung bis hin zu den sogenannten Aufständen in den Banlieues und den Solidaritätsbekundungen von Filmemachern und Intellektuellen mit den „sans papiers" --, die unser Interesse weckten. In der deutschen Berichterstattung konnte man jene Mischung aus Ver- und Bewunderung spüren, die das Verhältnis von deutschen zu französischen Intellektuellen kennzeichnet. Die Frage schien immer mitzuschwingen, ob die Ereignisse in Frankreich ein Vorbote dessen seien, was auch in Deutschland bewegt werden könne. Der Funke ist jedoch nur zum Teil übergesprungen: Die hiesigen Aktivitäten der Arbeitslosenbewegung haben die Dimension einer sozialen Bewegung bisher nicht erreicht.
Statt in der Rolle der externen Beobachter zu verharren, beschlossen wir, ein Heft zu konzipieren, das sich weniger dem Phänomen „Frankreich" widmet, als vielmehr einen bereits bestehenden Austausch vertieft. So ge schehen im Interview mit Bourdieu (Graw) oder in den Reflexionen über Derridas Interviewstrategien und die Medienkompatibilitát der Dekonstruktion (Weingart). Mit den ver schiedenen Herangehensweisen an den Topos „Banlieue" in soziologischen Untersuchungen und im neueren französischen Film befaßt sich Mark Terkessidis. Initiativen wie die „sans papiers"-Bewegung oder die Formation für eine europäische Citoyennité werden in Form von Interviews (mit Chantal Mouffe und Claudie Lesselier) und Reportagen (Gregory) vorgestellt — Formen, die dem Wunsch nach Zusammenarbeit und Dialog besser gerecht zu werden schienen.
In die jüngere Geschichte der Attacken gegen zeitgenössische Kunst führt eine Chronologie der Ereignisse ein (Courcelles): Exemplarisch für die zumeist anachronistisch anmutenden Vorwürfe steht die Person Jean Clairs, Direktor des Musée Picasso. In Clairs Büchern werden altbekannte Ressentiments gegen moderne Kunst bemüht, während aktuelle künstlerische Entwicklungen völlig ignoriert werden. Jedoch fällt auch die Einschätzung der französischen Kunstszene durch einen ihrer aktiven Teilnehmer kritisch aus: So konstatiert Frédéric Migayrou eine „Verspätung", d.h. eine zeitliche Verschiebung bei der Rezeption von politisch-theoretischen Diskursen und künstlerischer Produktion. Hierin könnte , auch eine Erklärung dafür liegen, daß eine umfassende Analyse der ranzösischen Kunstproduktion im Moment schwierig erscheint.