Mit einem von der Klitoris ausgehenden Denken nimmt Catherine Malabou in „Negierte Lust“ eine Einschreibung in das historisch gewachsene Geflecht aus teils zurichtenden wissenschaftlichen und theoretischen Annahmen über die Klitoris vor. Wie Philosophin Rebekka Wilkens aufzeigt, erlaubt dieses „Denken der irreduziblen Abstände“ eine anatomische, materielle sowie diskursive Verortung des Organs. Zugleich werden damit auch die Auslassungen und Negationen von Philosophie und Psychoanalyse in den Blick genommen, denn die Klitoris wurde im Gegensatz zum Phallus nicht als autonomes Objekt verhandelt. Malabou unternimmt unter anderem den emanzipatorischen Versuch, die klitorale Lust aus der phallozentrischen Macht und vom identitätspolitischen Begriff „Frau“ zu befreien – was Wilkens zufolge nicht uneingeschränkt gelingt.
Die Klitoris denken heißt, den Begriff durch ihre Regungen, ihr An- und Abschwellen, ihre Zuckungen selbst zu entwickeln, das Denken ins Organische einzulassen. Catherine Malabou macht das Organ zur Protagonistin einer bemerkenswerten Intervention in die Debatte um die cis weibliche Lust. In dem 2021 auf Deutsch erschienenen Buch Negierte Lust. Die Klitoris denken wird die Klitoris – von Malabou als einziges Organ eingeführt, das zu nichts außer der Lust dient – zur Trägerin eines anarchistischen Genießens. Die freudomarxistische Feststellung, Lust und politische Ökonomie seien immer schon miteinander verwoben, wird so in eine neue Richtung getrieben.
Die 1974 von der Kunstkritikerin und Feministin Carla Lonzi polemisch geäußerte Feststellung „Das weibliche Geschlechtsorgan ist die Klitoris, das männliche der Penis“ war vor den 1960er Jahren undenkbar. Die Klitoris wurde entweder nicht erwähnt oder freudianisch als jenes Organ gelesen, dessen Lust von einer „wahren Frau“ zugunsten der vaginalen aufgegeben werden muss. Die Komplexität des Organs wurde auch von Simone de Beauvoir in seinem Verhältnis zur Vagina und weniger in seiner Autonomie gesucht. Dass ein vaginaler Orgasmus bei der Mehrheit der Frauen nicht spontan entstehe, gibt de Beauvoir ein Rätsel auf, das sie phänomenologisch löst: Es hänge von der Zärtlichkeit des jeweiligen heterosexuellen Sexpartners ab, wie gut die „Machtübergabe“ der orgastischen Lust von der Klitoris auf die Vagina gelinge. De Beauvoir kritisiert zwar, dass Vagina und Klitoris von Freud ausschließlich in einem Verhältnis von Aktivität und Passivität, von Herr und Knecht konzipiert sind, aber sie löst die Klitoris nicht aus diesem Verhältnis heraus.
Nach dem Mai 1968 wurde die Klitoris nicht nur theoretisch stärker beachtet, sondern fand, unter anderem in Tee Corinnes Cunt Coloring Book von 1975, einem Werk, das die äußerlich sichtbaren Geschlechtsorgane als primäre Lustquellen darstellt, Eingang in die Kunst. Seit dem Aufkommen der Diskurse über Genderperformanz in den 1990er Jahren sind Interventionen, in denen ein Organ zum Akteur feministischer Kämpfe gemacht wird, und damit auch affirmative Bezüge auf die Klitoris, allerdings erneut selten geworden, da ihnen der Verdacht anhaftet, essenzialistisch zu sein.
Ausgehend von der Feststellung, durch das Verkennen der Autonomie und der einzigartigen Lust der Klitoris finde eine Entkörperlichung des weiblichen Genießens statt, erschließt Malabou Lonzi eine neue Gegenwart: Sie schreibt Negierte Lust, um Denken und Sexualität nicht in einer Logik von Befehl und Gehorsam zu belassen und auch, um auf eine spezielle, bisher ungedachte Qualität der Klitoris zu insistieren.
Das von Malabou entfaltete Denken der Klitoris ist eines der irreduziblen Abstände. Dass der sichtbarste Abstand, jener zwischen Klitoris und Vagina, zwar operativ reduzierbar ist, dessen Verringerung das Problem der Lust aber nicht löst, zeigen die Leiden der Freud-Schülerin Marie Bonaparte. Aufgrund ihres Unvermögens, einen vaginalen Orgasmus zu erleben, unterzog sie sich drei Operationen, in denen ihre Klitoris näher zur Vagina gesetzt wurde. Es veränderte sich dadurch nichts an ihrer vermeintlichen Frigidität. Malabou beharrt daher auf der Notwendigkeit, den Abstand zwischen den Organen auch theoretisch beizubehalten. Sie liest ihn als öffnendes Moment, das die Differenz pluralisiert: Der Abstand „bricht die paradoxe Identität der Differenz auf, enthüllt eine Vielheit, die sich in ihm verbirgt“. Die Existenz der Klitoris bezeugt diesen Abstand, sie ordnet sich weder der Herrschaft des Penis unter noch wird sie zur Handlangerin der Vagina. Sie hat ihr eigenes, plurales Genießen.
In 15 kurzen Kapiteln, deren zarte, vorsichtige Gestik die Autorin mit Pinselstrichen vergleicht, präsentiert sie Material aus Theorie, Politik, Biologie und Kunst, das begrifflich unvereinbar scheint. Zwischen der Tatsache, dass die Klitoris bislang ein weitgehend stummes Symbol war, und dem ihr laut Malabou innewohnenden politischen Potenzial schreibt sich ein weiterer Abstand ein: jener zwischen dem ekstatischen klitoralen Genießen und der Gewalt, die dem Organ widerfährt.
Die Klitoris wird systematisch verstümmelt. Weltweit wird alle 15 Sekunden eine Exzision, eine vollständige oder teilweise Entfernung der Klitoris und der Schamlippen, vorgenommen. Dabei besteht für Malabou ein dritter Abstand, nämlich zwischen der tatsächlich erfolgten Operation und ihrer Bezeichnung, der in den letzten Jahren durch die verstärkte Kritik am Terminus „Genitalverstümmelung“ besonders Beachtung fand. Es wird argumentiert, dieses Wort betone zwar zu Recht die Gewalt des Eingriffs, lasse aber dessen möglicherweise rituellen Hintergrund unberücksichtigt und beurteile ihn aus westlichem Blickwinkel. Nicht zuletzt berichten manche Betroffene, dass ihr eigenes Lustempfinden einen noch größeren Schaden erfährt, wenn sie ihre eigenen Körper als „verstümmelt“ betrachten. Malabous Frage, ob die Verstümmelung durch die Tat oder vielmehr durch das Wort geschehe, spielt beide in vielleicht unnötiger Weise gegeneinander aus. Dennoch ist ihre Erinnerung an den Abstand zwischen beiden willkommen. Das Dilemma, wie den operativen Eingriffen eine allgemeingültige Bezeichnung gegeben werden kann, die nicht jene unnötig noch weiter verletzt, die ohnehin die Opfer sind, veranschaulicht, was Malabou als Schizophrenie des Feminismus bezeichnet: Im feministischen Diskurs findet ein ständiges Springen zwischen den Perspektiven statt. Dennoch kann er nicht auf einen universellen Anspruch verzichten.
Die bei den „Genitalverstümmelungen“ von Malabou verdeutlichte Schwierigkeit, eine gelungene Sprachpraxis zu etablieren, wenn es um die Klitoris und ihre Auslöschungen geht, weist auf einen Abstand zwischen Wort und Materie, aber zugleich auch auf die Berührungspunkte beider hin. Die fragile Beziehung zueinander manifestiert sich am Geschlecht, das „ein Konstrukt und zugleich ganz und gar organisch“ ist. Malabou betont die Unmöglichkeit, genau auszumachen, an welcher Stelle das Materielle aufhört und das Wort beginnt, wo das Materielle Bedeutung umformt und vice versa. Aber nicht nur diese Grenzen sind permeabel. Auch die Differenzen zwischen verschiedenen Begriffen, binär oder nichtbinär organisiert, werden destabilisiert, durchlässig.
Die buchstäblichste Frage, die sich für Malabou aus der Plastizität der Begriffe und Körper ergibt, ist jene nach dem Verhältnis von cis (griech. für diesseits) und trans (griech. für jenseits). Die Geschlechtsidentität war also terminologisch immer schon mit metaphysischen Problemen verknüpft. Indem sich trans* Menschen jenseits der cis Welt befänden, verweisen sie für Malabou auf eine plurale Geschlechtlichkeit. Sie erinnert an Paul B. Preciados Feststellung, eine cis Frau, die die Pille oder Hormonsubstitute einnimmt, sei immer schon eine trans* Frau. Heute ist eine „somapolitische Revolution im Gange, eine Revolte aller vulnerablen Körper gegen die Unterdrückung durch diese Technologien“.
Malabou schreibt der Klitoris ein trans* Moment zu: Sie trägt ihr eigenes Jenseits in sich. Dieses liege in der Gleichgültigkeit der Klitoris gegenüber Macht und Gewalt. Ihre Fähigkeit, die Logik von Herrschaft und Gehorsam zu unterbrechen, mache sie zur Zeugin einer Lust jenseits der Macht, eines klitoralen Logos, den Malabou als Möglichkeit der Subjektivierung wahrnimmt. Die Klitoris markiere, so in einem Text, „jene Stelle, an der Philosoph:innen sich vergnügen und aufhören, ihr anatomisches Geschlecht ihrem sozialen Geschlecht gleichzusetzen“, sie kreiere ekstatische Zonen des Realen, „Zonen der Sinnproduktion, die sich ohne ein Bespringen oder Hervortreten manifestieren“ und sich jeglicher phallischer Metaphorik entledigt haben. Die „Frau“ hört bei Malabou auf, identitätspolitischer Begriff zu sein. Sie wird zum entnatürlichten Subjekt einer Erfahrung, das sich das Denken der Abstände zunutze macht: des Abstands zwischen anerkannten und ausgelöschten Anteilen, zwischen Organ und Wort, zwischen zwei Organen, zwischen einem Unterdrücktsein und dem Ununterdrückbaren. Dabei ist „Frau“ ein Name für Körper, die aufgrund essenzialistischer Zuschreibungen bis in die Gegenwart unterdrückt werden und zugleich aus der Möglichkeit, sich von diesen zu emanzipieren, Kraft schöpfen – für Körper, die in Malabous Denken der Abstände leben.
Vor allem wenn man Malabou von Michel Foucault ausgehend liest, kommt die Beharrlichkeit, mit der sie darauf besteht, die Klitoris sei fähig, eine Lust jenseits der Macht zu erleben, unerwartet. „Die Klitoris ist eine Anarchistin“, stellt Malabou klar, und ermöglicht ein anarchistisches Denken und Genießen, das trotz biopolitischer Versuche, sie zu verwunden, insistiert. Man ist versucht, diese These als Idealismus abzutun. Denn obwohl Malabou an verschiedenen Stellen darauf beharrt, die Abstände müssten als Teil klitoralen Denkens respektiert werden, gibt es einen einzigen, den sie verringern will: jenen zwischen Denken und Genießen. Das Denken solle das Genießen nicht länger verbieten oder abspalten, das Genießen nicht länger ungedacht bleiben: Die Klitoris führe durch ihre organische Existenz in ein Genießen über, das zur Macht auf Abstand geht.
Die Frage nach der Ausgestaltung eines Jenseits der Macht, der anarchistischen Ordnung ohne Herrschaft, wird von Malabou in Au voleur! Anarchisme et philosophie erneut gestellt, wenn auch nicht explizit auf die Klitoris bezogen. In der Lust tauche die Frage nach diesem Jenseits, so Malabou, am radikalsten auf. Ihre theoretisch prominenteste Ausgestaltung sei der Todestrieb, weshalb Malabou Jacques Derridas Freud-Lektüren aufnimmt. Dieser betont die spiralförmige Komplizenschaft von Lust und Macht, die Gleichsetzung von Lustprinzip und Arche, von dessen Jenseits mit deren Überschreitung. Die Frage, ob dieses Jenseits, von Freud als Tod benannt, ein Ort des Entzuges, der Ohnmacht oder vielmehr die äußerste Konsequenz der Macht ist, beantwortet Derrida schließlich in letzterem Sinne: Die Überschreitung eines Prinzips sei immer als dessen heimliche Komplizin zu verstehen. Indem sie sich auf Traumatisierte und Verwundete bezieht, plädiert Malabou hier gegen Derrida für die Existenz eines radikaleren Jenseits, dem jene klitoridische Gleichgültigkeit gegenüber der Macht innewohnt. Dieses Jenseits, das im Diskurs über die Lust als Todestrieb auftaucht, sei keine absolute Zerstörung oder Zersetzung, sondern ermögliche die Entstehung von Verhältnissen, die nicht länger nur in ihrer Bezogenheit auf die Herrschaft existieren. Für Malabou birgt die Klitoris ein solches Jenseits, einen neuen Eros, in sich. Sie entzieht sich der phallischen Logik der beherrschenden Einheit zugunsten einer ekstatischen, anarchistischen Pluralität, deren Vitalität sich aus ihrem Abstand zur Macht speist.
Durch Malabous Einsatz werden die klitorale Lust von der Macht, die Klitoris aus ihrer schmerzvollen Verbindung mit der Vagina gelöst. Die so entstandenen Öffnungen werden durch das Denken der Abstände möglich, die als begriffliche Platzhalter für eine noch kommende, nichtbinäre Verhältnishaftigkeit fungieren: Anstelle der Dialektik von Herr und Knecht, der Dichotomie von aktiv und passiv verbleiben Lücken im Text. Sie rufen den Wunsch nach klareren Leitlinien hervor, nach einer Idee, wie ein neuer Eros denn zu begründen wäre. Diese bleibt aus. Malabou schüttet die Abstände nicht zu und bricht so mit phallozentrischen Leseerwartungen. Der klitoralen Lust obliegt nicht länger eine eindeutige Genese, sie erlangt Autonomie und wird zum Signifikanten eines pluralen Genießens. Malabou erinnert daran, dass die Klitoris nur essenzialistisch ist, wenn man „Essenz“ im Sinne des griechischen eidos liest: Sie ist als etwas Bewegliches zu verstehen, das mit keiner Natur oder festen Gestalt verknüpft ist.
Ambivalenter zu bewerten ist Malabous Glaube an die Möglichkeit des Entkommens der Klitoris aus den Irrwegen der phallischen Lust und ihrer Machtdynamik. Der theoretische Spagat, der für Malabou in den Anarchismus der Klitoris mündet, besteht darin, die Klitoris einerseits aus ihrer Verwobenheit mit Vagina und Phallus befreien, zugleich aber ihren historischen Zusammenhang mit den Begriffen „Frau“ und „Weiblichkeit“ nicht aufgeben zu wollen. Die Komplexität dieser Bewegung wird beim Lesen ihres Buches Negierte Lust deutlich. Der subversiven Kraft, die Malabou dem Organ zuschreibt, wohnt ein möglicherweise zu naiver Wunsch nach Vereindeutigung der zerrissenen Struktur des Genießens weiblich gelesener Körper inne, deren Echo in Malabous mäanderndem, suchendem Text nachhallt. Dabei beweist die Gewalt, die der Klitoris widerfährt, hinlänglich, dass Lust und Unterdrückung in der Gegenwart weiterhin eng miteinander verbunden bleiben. Somit wirkt die Feststellung „Das Höchste und das Niedrigste hängen in der Sexualität überall am innigsten ineinander“ , mit der Freud nüchtern seine Untersuchung sexueller Perversionen kommentierte, weiterhin unwiderlegbar. Malabous Interpretation klitoraler Lust wird so lange der Verdacht anhaften, zu leichtfertig vom Denken der Abstände hin zum emanzipatorischen Potenzial der Klitoris zu springen, bis ihn die Realität Lügen straft.
Catherine Malabou, Negierte Lust. Die Klitoris denken, Zürich: Diaphanes, 2021, 120 Seiten.
Rebekka Wilkens ist Philosophin und lebt in Berlin. Sie promoviert zu „Ex-sistenz, Differenz, Plastizität. Figuren des Femininen in der Gegenwart“.
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Anmerkungen