Wie umgehen mit Künstler*innen, die durch Skandale und abfällige oder verächtliche Bemerkungen auf sich aufmerksam machen – und wie mit ihren Werken? Die Suche nach einer Antwort auf diese Fragen scheint aktuell in einer kontrovers geführten Debatte festzustecken. Die eine Seite vertritt hier vehement die Annahme, Kunst sei zweifelsohne Ausdruck des Charakters ihrer Urheber*innen, während die andere Seite auf einer Trennung zwischen Person und Produkt beharrt. Diese Frontstellung hat (Kunst-)Geschichte. So stehen sich aus kunstwissenschaftlicher Sicht, wie Isabelle Graw darlegt, traditionell zwei gegensätzliche Methoden gegenüber: eine formalistische Kunstgeschichte und die biografische Erzählung à la Vasari. Obgleich beide Methoden über epistemologisches Potenzial verfügen, schlägt Graw ein metonymisches Wechselverhältnis zwischen Produkt und Person vor, das beide Pole produktiv zusammenführt und eine andere Dynamik innerhalb der Kunstgeschichtsschreibung ermöglicht.
1. Trügerischer Frontverlauf
In den Debatten über den Umgang mit Werken von Künstler*innen, die sich aus ethischer Sicht problematisch verhalten, trifft man stets auf zwei Extrempositionen. Die eine Seite geht – zumeist unausgesprochen – von der vollständigen Trennung zwischen den Arbeiten und ihren Autor*innen aus und neigt entsprechend zu der Annahme, dass noch die politisch fragwürdigsten Äußerungen oder Verhaltensweisen eines Künstlers (in der Regel sind dies Männer) für die Rezeption und Bewertung seiner Werke vollständig unerheblich seien.
Ob also ein Künstler wie Caravaggio, der in diesem Zusammenhang gerne erwähnt wird, wegen Totschlags verbannt wurde, oder ob Georg Baselitz öffentlich frauenverachtende Sprüche klopft, tut der Begeisterung jener Rezipient*innen keinen Abbruch, die deren Bilder als etwas von der Person des Künstlers vollständig Losgelöstes betrachten. Die andere Seite nimmt hingegen mehr oder weniger explizit an, dass Werk und Künstlerpersona in eins fallen. Auf der Grundlage dieser Überzeugung können dann zahlreiche Arbeiten – so etwa das Gemälde Thérèse träumend (1938) von Balthus – auf den Index gesetzt werden. 2017 haben Tausende eine Onlinepetition unterzeichnet, in der gefordert wird, dass dieses im Metropolitan Museum in New York hängende Bild, das ein sitzendes, tagträumendes junges Mädchen mit aufgestelltem Bein und sichtbarer weißer Unterwäsche zeigt, entfernt oder wenigstens mit einer kontextualisierenden Erklärung versehen wird. Diese Forderung wurde damit begründet, dass mit diesem Bild die Sexualisierung von Kindern romantisiert würde. Dass wenige Jahre zuvor bei Gagosian in New York zwischen 1990 und 2000 aufgenommene Polaroids gezeigt worden waren, für die Balthus in boudoirhaften Szenen eine seiner minderjährigen Musen, Anna Wahli, soft-pornografische Posen einnehmen ließ, kam der Petition zugute. Denn an den pädophilen Neigungen von Balthus schienen nun kaum mehr ein Zweifel zu bestehen. In den Augen all derer, die für die Entfernung von Thérèse träumend plädierten, verleitet dieses Bild nicht nur zu einer Sexualisierung von Kindern, es transportiert auch die dirty old man-Fantasien seines Urhebers. Diese Sichtweise ist nachvollziehbar und greift dennoch zu kurz – dazu mehr an späterer Stelle. Für den Moment sei festgehalten, dass Thérèse träumend nicht nur aufgrund seines problematischen Motivs, sondern auch aufgrund angenommener unauflöslicher Bande zwischen dem Bild und dessen Urheber als eine unerträgliche Zumutung empfunden wurde. Dass es zudem Fotos von Balthus gibt, die ihn in inniger Verbundenheit mit seinen Musen zeigen, scheint seinen aus heutiger Sicht tendenziell missbräuchlichen Umgang mit jungen Mädchen zu bestätigen. Somit hat die Inszenierung seiner Person Einfluss auf die Wahrnehmung seines Werkes (und umgekehrt); das Produkt wird unter je entsprechenden Vorzeichen gelesen. So sehr sich das Caravaggio-Fans oder Baselitz-Verehrer*innen auch wünschen mögen: Person und Produkt der Künstler*innen gänzlich unabhängig voneinander zu rezipieren, gestaltet sich in Fällen wie diesen sehr schwierig. Wobei es natürlich immer auch sein kann, dass man schlicht kein Problem mit einem längst verjährten Mord oder mit den im Kunstbetrieb nach wie vor gängigen sexistischen Provokationen und Übergriffen hat.
2. Vor- und Nachteile einer „Kunstgeschichte ohne Künstler*innen“, Potenziale und Grenzen der Biografik
Hinter dieser Frontstellung – „Trennung“ versus „Ineinssetzung“ von Produkt und Person – stehen aus kunstwissenschaftlicher Sicht zwei gegensätzliche Herangehensweisen und Methoden. Wer zum Beispiel glaubt, dass Werk und Künstler*in trennscharf voneinander abgegrenzt werden können, steht in der Tradition einer (von Ernst Kris und Otto Kurz kritisierten) formalistischen „Kunstgeschichte ohne Künstler*innen“, in der die empirische Person des*der Künstler*in keine Rolle für die Rezeption seines*ihres Werkes spielt. Die Annahme lautet hier, dass die künstlerische Formensprache ohnehin erst in der Betrachtung zur Entfaltung kommt, weshalb deren Urheber*innen – und damit auch deren Taten und Lebensgeschichten – keinerlei Aufmerksamkeit verdienen. Informationen über Persönliches tragen aus dieser Perspektive einer formalistischen Kunstgeschichte rein gar nichts zum Verständnis des Werkes bei. Diesem Ansatz schroff gegenüber steht die Biografik, deren Bühne die Künstler*innen Kris und Kurz zufolge in der Renaissance betreten haben. Giorgio Vasaris Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten (1550) können in der Tat als Urszene einer solchen Legenden produzierenden und auf das Biografische fixierten Kunstgeschichte angesehen werden. Denn bei Vasari liegt das Hauptaugenmerk auf dem Habitus und dem Auftreten der von ihm beschriebenen Künstler – ausschließlich Männer natürlich. Und je wohlwollender er deren Charakter und Auftreten beschreibt, desto größer ist auch seine Bereitschaft, deren Werke gutzuheißen. Wie sich die Künstler aufführten und vermeintlich lebten, war für Vasaris Werturteil das entscheidende Kriterium.
Sowohl diese biografistische Fixierung auf imaginierte Lebensumstände à la Vasari als auch das schlichte Ignorieren des biografischen Faktors durch die formalistische Kunstgeschichte (etwa bei Clement Greenberg oder Michael Fried) verfügen über erkenntnistheoretisches Potenzial. Zugleich gerät allerdings durch die Einnahme nur einer dieser beiden Perspektiven auch einiges aus dem Blick. Die „Kunstgeschichte ohne Künstler*innen“ beruht unter anderem auf der durchaus zutreffenden Grundannahme, dass sich künstlerische Arbeiten nicht in der Person ihrer Urheber*innen erschöpfen. Sie lassen sich entsprechend auch nicht auf deren Intentionen reduzieren oder zurückführen. Im Gegenteil: Das von Künstler*innen Beabsichtigte ist oft nicht das, was die Betrachter*innen am Ende zu sehen bekommen. Jedes Werk enthält vielmehr Unbeabsichtigtes. Auf diese komplexe Relation zwischen dem Unausgedrückten, aber Beabsichtigten, und dem unabsichtlich Ausgedrückten hatte schon Marcel Duchamp mit seinem „Kunst-Koeffizienten“ hingewiesen. Nach Duchamp würde man sich auf den Holzweg begeben, wenn man die wahre Bedeutung eines Werkes aus den Absichtserklärungen seines/seiner Urheber*in ableiten wollte. Denn das, was ursprünglich von ihnen beabsichtigt wurde, findet sich, wie bereits erwähnt, nicht notwendig in ihren Arbeiten. Mehr noch: Statements von Künstler*innen, die spätestens seit der Conceptual Art als integraler Bestandteil von künstlerischen Arbeiten angesehen werden müssen (dies auch im Sinne einer als diskursiv verstandenen Kunst), darf man nicht für bare Münze nehmen. Zwar wird über sie Bedeutung generiert, aber wie alle anderen Bedeutung herstellenden Faktoren auch müssen sie dekodiert und interpretiert werden.
Der Versuch einer Vermeidung von biografistischen Rückschlüssen – ein wesentliches Anliegen der „Kunstgeschichte ohne Künstler*innen“ – ist allerdings gleichermaßen risikobehaftet. Es können dabei zum Beispiel die seit den historischen Avantgarden in der bildenden Kunst vermehrt anzutreffenden lebensweltlichen Bezüge aus dem Blick geraten. Bei Einnahme einer biografieaversen Perspektive tritt das konkrete biografische Material in den Hintergrund, das etwa in den kubistischen Collagen von Pablo Picasso oder Georges Braque durchaus aufscheint. Verfechter*innen eines rein formalistischen Ansatzes würden an dieser Stelle zwar einwenden, dass man in Kunstwerken nie auf authentisches Leben, sondern eher schon auf hochgradig inszenierte und medial vermittelte Lebens*suggestionen* trifft. Und damit hätten sie natürlich recht. Das Problem bleibt jedoch, dass sich weder mit der Methodik der formalistischen Kunstgeschichte noch mit jener der Biografik die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Leben oder zwischen Produkt und Person angemessen analysieren lassen.
4. It’s complicated
Nur: Wie genau wirkt sich das soeben skizzierte metonymische Wechselverhältnis zwischen Produkt und Person auf unseren Umgang mit Arbeiten von Künstlern wie Georg Baselitz oder Balthus aus, die sich aus politischer und/oder ethischer Sicht frag- bis verurteilungswürdig äußern oder verhalten? Beginnen wir mit Baselitz, der 2013 in einem Spiegel-Interview mit der unsäglichen Behauptung aufwartete, dass Frauen nicht malen könnten. Diese hoffnungslos misogyne These versuchte er mit einem Verweis auf die angeblich geringeren Marktwerte der Werke von Künstlerinnen zu untermauern: Der Markt lüge nicht. Einmal abgesehen davon, dass Baselitz auf diese Weise, wie im Übrigen zahlreiche Agent*innen des Marktes, den Marktwert mit künstlerischer Relevanz verwechselte und dabei über die inzwischen zahlreichen am Markt erfolgreichen Künstlerinnen schlicht hinwegging – mir als eine weiblich identifizierte Person wird es in Zukunft schwerfallen, seine Bilder zu betrachten, ohne dass in mir Wut aufsteigt über seine sexistischen Äußerungen. Statt jedoch sein Gesamtwerk zu verwerfen, wäre es im Sinne des metonymischen Wechselverhältnisses zwischen Produkt und Person vielleicht produktiver, seine Gemälde unter dem Aspekt eines männlichen Heroismus und der Frauenfeindlichkeit zu betrachten. So könnte man beispielsweise seine Serie der 1965/66 entstandenen monumentalen Heldenbilder als verzweifeltes (und buchstäbliches) Aufbäumen einer Männlichkeit ansehen, die ihre Privilegien angesichts des damals schon brüchig werdenden Patriarchats bedroht sieht. Soldatische Männer – ob überdimensioniert gemalte „Freunde“ oder Kriegsversehrte – verweisen in diesen Bildern auf eine männliche Dominanz, die nach 1945 in die Krise geriet und buchstäblich wieder aufgebaut werden musste. Indem Künstler wie Baselitz in den 1960er Jahren den Topos des soldatischen Mannes aufgreifen und auch selbst in ihrem Auftreten „Haltung“ annahmen, setzten sie sich mit dem verdrängten Erbe der NS-Zeit auseinander und verteidigten zugleich längst verloren gegangenes Terrain. Bei seinen Heldenbildern wirkt es zudem so, als würde Baselitz Frauen vor dem Hintergrund eines rein männlich gedachten Heroismus auch deshalb aus seiner Bildpolitik ausschließen, weil sie in den 1960er Jahren verstärkt Teilhabe forderten. Schon in seinem Skandalbild Die große Nacht im Eimer (1962/63) hielt er der schwindenden Macht des Phallus einen hölzern wirkenden, erigierten Penis entgegen. Es wirkt so, als würde der sich von den Frauen bedroht fühlende, kastriert geglaubte Mann ein letztes Mal die Flucht nach vorn ergreifen. Seinem visuellen Pochen auf ein rein männliches Heldentum entspricht der Jahrzehnte später unternommene, aus dieser Perspektive nahezu verzweifelt anmutende Versuch, Frauen als Malerinnen zu diskreditieren. Sowohl in einigen seiner Bilder als auch in besagter Äußerung scheint Baselitz die Bedrohung durch Frauen dadurch abzuwehren, dass er sie ausschließt und/oder abwertet, um zugleich an einem überzogen männlichen und grotesk martialischen Heroismus („Meine Bilder sind Schlachten“) festzuhalten.
Auf etwas Vergleichbares stößt man bei Thérèse träumend von Balthus; denn auch dieses Bild lässt sich als Manifestation einer – in diesem Fall pädophil angehauchten – Männerfantasie betrachten. Das träumende Mädchen, dessen geöffnete Beine den Blick auf ihre Unterwäsche freigeben, hält die Augen geschlossen und scheint einem sinnlichen Traum nachzuhängen. Sie nährt voyeuristisches Begehren, entzieht sich diesem aber zugleich, da ihr sexuelles Genießen für die Betrachter*innen unerreichbar bleibt. Als Symbol für das sexuelle Erwachen von jungen Mädchen setzte Balthus das Motiv einer Milch schlürfenden Katze unter das sitzende Mädchen. Die Rede von der „träumenden“ Thérèse im Titel bringt zudem unweigerlich Sigmund Freuds Traumdeutung sowie dessen Sexualtheorie ins Spiel – bekanntlich trug Freud maßgeblich zu einem neuen Verständnis kindlicher und adoleszenter Sexualität bei, das nicht nur im Umfeld der Surrealisten einflussreich war, sondern auch von Balthus sichtbar aufgegriffen wird. Seither wurde allerdings viel Missbrauch unter dieser Freud’schen Prämisse betrieben, wie zuletzt die Pädophilie-Debatte bei den Grünen zeigte. Um 1935 jedoch wurden sexuelle Transgressionen noch als etwas künstlerisch „Progressives“ angesehen. Man muss die Bilder von Balthus somit auch im Kontext des damaligen Denkens von George Bataille oder Pierre Klossowski verorten, zumal die Milch als Sinnbild des Erotischen und Unförmigen in Batailles erotischer Geschichte des Auges eine zentrale Rolle spielt. Dass die Transgressionsfantasien dieser Männer oft auf Kosten von Frauen gingen, wie man beispielhaft an André Bretons Nadja zeigen kann, ist mir erst sehr viel später, in den 1990er Jahren, aufgegangen.
Doch anders als bei Baselitz, in dessen Heldenbildern sich bereits ein gewisses Maß an Männerkult und Gynophobie offenbarten, wird der Figur in Thérèse träumend von Balthus ein gewisses Maß an Selbsttätigkeit und Unverfügbarkeit eingeräumt. Zwar ist diese Figur den Blicken und dem Begehren ihrer voyeuristischen Betrachter*innen ausgeliefert, und sie nährt durchaus Missbrauchsfantasien. Aber zugleich weisen ihre geschlossenen Augen und ihr sinnlicher Gesichtsausdruck auf ein sexuelles Genießen hin, das den Betrachter*innen entzogen wird, ihnen vorenthalten bleibt. Die Milch schlürfende Katze könnte stellvertretend für weibliche Ejakulation und eine Lust stehen, die in Thérèse träumend nur angedeutet bleibt. Die Sexualität der Figur ist exponiert und den Blicken unterworfen, zugleich wirkt sie aber auch selbstbestimmt und unverfügbar. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass just diese Unverfügbarkeit des Mädchens aus pädophiler Sicht besonders erregend erscheint. Entscheidend bleibt, dass auch dieses Produkt von den persönlichen Neigungen seines Urhebers durchdrungen ist, zugleich jedoch einen Eigensinn entfaltet, der sich letztlich auch auf die Beurteilung der Person des Künstlers auswirken muss. Denn am Ende hat er die Unverfügbarkeit der Figur in Thérèse träumend zu verantworten. So wie also einerseits sowohl die Aussagen von Künstler*innen (wie etwa das sexistische Statement von Baselitz) als auch deren Verhaltensweisen (wie etwa die Selbstinszenierungen von Balthus als adligem Dandy mit einem Faible für junge Mädchen) ihr Werk in anderem Licht erscheinen lassen, sind Werke im Idealfall komplexer als ihre Urheber*innen. Zwar schwingen deren Lebenswelten, Vorlieben und Überzeugungen in ihnen mit, aber sie können sich zugleich auch von ihnen losreißen und/oder über sie hinausgehen. Nur wird auch eine derartige Widerspenstigkeit des Bildes am Ende schon qua Autor*innenschaft seiner*ihrer Urheber*in gutgeschrieben werden. Das Band zwischen Produkt und Person muss man sich folglich als ausgesprochen reißfest vorstellen, und dennoch fallen Produkt und Person niemals in eins.
Isabelle Graw ist Herausgeberin von Texte zur Kunst und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021) und Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022).
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Anmerkungen