AUFSTAND DER LIEGENDEN KÖRPER Charlotte Matter über Grace Schwindt im Kunstmuseum St. Gallen
Auf der raumfüllenden Plattform, die zugleich als Bühne für eine Performance und als Sockel für einige Skulpturen fungiert, ist neben dem Schlagzeug ein kleines ovales Objekt aus weißer Keramik platziert. Darauf ruht bäuchlings eine vogelartige Figur aus Bronze, den Kopf seitlich gewendet, die Flügel nach unten baumelnd. Grace Schwindts Resting (2018) erinnert an die Worte der Civil-Rights-Aktivistin Fannie Lou Hamer: „I am sick and tired of being sick and tired.“ [1] Gebückte und liegende Körper finden sich auch sonst in der Ausstellung von Schwindt im Kunstmuseum St. Gallen immer wieder, so etwa im monumentalen Schattenbild Memory of a Boxer (2022), das eine auf dem Rücken ruhende Figur zeigt, einen Arm nach hinten ausgestreckt und ein Bein leicht angewinkelt. Im Ausstellungstext wird sie als „k. o.-geschlagene[r] Boxer“ und „kampfunfähige[r] Körper“ beschrieben – doch könnte die Gestalt nicht ebenso in der Ekstase der Erschöpfung schwelgen? Weshalb gilt ein Körper als impotent, wenn er liegt und ruht?
In Überwachen und Strafen beschreibt Michel Foucault, wie moderne Techniken der Disziplin danach streben, den Körper auszunutzen, umzumodeln und zu vervollkommnen, um ihn gefügig und damit nützlich zu machen. Der „gelehrige Körper“ ist gemäß Foucault ein formbares Objekt, dessen optimierte Anatomie auf Produktivität und Widerstandslosigkeit ausgelegt ist. [2] Die Disziplin, so Foucault, „steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen)“. [3] Mit ihrer Ausstellung erprobt Schwindt in gewissem Sinne den Umkehrschluss: Der versehrte, geschwächte Körper wird hier als politische Kraft eingefordert. Unter dem Titel „Defiant Bodies“ fragt die Künstlerin nach den Bedingungen, unter denen gewisse Körper der Disziplin trotzen und sich weigern, vom System unterworfen, normalisiert und gefügig gemacht zu werden. Schwindts Skulpturen und Zeichnungen stellen Gestalten dar, die Gebrechlichkeit für sich in Anspruch nehmen. Wiederkehrende Motive sind Wunden, abgetrennte oder zerbrochene Körperteile und Prothesen. Erschöpfung zieht sich als zentrales Thema durch die Ausstellung und braut sich in den liegenden Figuren, gebückten Haltungen und triefenden Gliedmaßen zusammen. Diverse Anspielungen auf Leistungssport und Selbstoptimierung rufen in Erinnerung, wie Disziplinartechniken in kapitalistischen Gesellschaften internalisiert werden und sich gelehrige Körper selbst reproduzieren. Sinnbildlich dafür steht ein eingeknickter, mit Venen überzogener Fuß am Eingang der Ausstellung, der schmerzhaft an die Spitzentechnik des klassischen Balletts erinnert. Etwas überdeutlich wird diese Idee in den hinteren Räumen an großen Bronzefiguren durchgespielt, um deren erschlaffte Körper als Zeichen der selbst auferlegten Unterjochung das losgelöste Seil eines Boxrings geschlungen ist.
Während ihres zweimonatigen Aufenthalts in St. Gallen hat Schwindt einige neue Werke in Zusammenarbeit mit der Kunstgießerei im Sittertal produziert. Die Künstlerin hat dort unter anderem an der Patinierung von Bronze getüftelt, einem Verfahren, das den natürlichen Oxidationsvorgang beschleunigt und somit einen kontrollierten Alterungsprozess ermöglicht. Einige der Sockel sind angebrannt, sodass ihre Oberfläche kohlenschwarz und krustig ist. Patina, so viel ist klar, dient hier nicht bloß als Medium, sondern als programmatischer Inhalt. Das Synonym Edelrost verweist denn auch auf die Idee, wonach Abnutzung als eine Form von Veredelung gilt, und schreibt diese somit in die Kategorie des Schönen ein. Als kontrollierter Prozess arbeitet Patina allerdings stets auch einem normativen Schönheitsideal zu, denn die erstrebte Abnutzung folgt Konventionen und wird nur bis zu einem gewissen Grad zugelassen. Eine Grenze verläuft – so willkürlich sie auch sein mag – zwischen dem, was gerade noch als schön gilt, und dem, was bereits übermäßig zerstört und deshalb unansehnlich erscheint.
Im Laufe der Ausstellung findet an drei Abenden eine dreistündige Performance mit dem Titel The Boxer statt, so auch anlässlich der Eröffnung. Fünf Figuren – eine Boxerin, eine Tänzerin, eine Sängerin, eine Schlagzeugerin und ein Bodybuilder – interpretieren ein Skript, das auf den Erzählungen eines Soldaten basiert. Die Patina macht sich auch am Körper des weißhaarigen Bodybuilders bemerkbar. Unter seinem Gesäß zeichnen sich helle Streifen ab, da, wo die Solariumbräune nicht durchgedrungen ist: Vanitas im Zeitalter der Selbstoptimierung. Der Bodybuilder spannt derweil die Muskeln an und nimmt Posen aus seinem Repertoire ein. Im Museumskontext erinnern sie an klassische Skulpturen, aber auch an das faschistische Körperideal, das unter anderem in der nationalsozialistischen „Großen Deutschen Kunstausstellung“ propagiert wurde.
Tobin Siebers, ein wegweisender Denker der Disability Studies, hat demgegenüber die These aufgestellt, dass die von den Nazis als „entartet“ diffamierte Kunst – und mit zunehmendem Maße auch die Kunst der Nachkriegszeit – sich gerade durch ihr Interesse an Körpern auszeichne, die zuvor als gebrochen, krank, verwundet oder behindert galten, und dadurch herkömmliche Konzeptionen von Schönheit aufzubrechen vermöge. [4] Das revolutionäre Potenzial dessen, was Siebers als „Ästhetik der Behinderung“ bezeichnet, liegt insbesondere darin, normative Kategorien des ästhetischen Urteils zu hinterfragen und den Zusammenhang mit Mechanismen der Unterdrückung aufzuzeigen. Allerdings bleibt die entscheidende Frage, weshalb versehrte und nicht normative Körper in Kunstwerken als schön gelten, Menschen mit Behinderungen jedoch immer noch weitgehend von der Kategorie der ästhetischen Schönheit ausgeschlossen werden. Auch Schwindts „Defiant Bodies“ vermag dies nicht zu beantworten.
In der Waagerechten entwickeln die Figuren in ihrer Ausstellung und Performance dennoch eine Widerstandsfähigkeit. Liegende Körper entziehen sich der kapitalistischen Maxime vom immerwährend produktiven Körper und der zutiefst ableistischen Vorstellung, wonach es die aufrecht stehende Haltung ist, die uns zu Menschen macht. [5] Wie Johanna Hedva beschreibt: „Diejenigen von uns, für die Krankheit eine alltägliche Realität ist, wissen seit langem um ihr revolutionäres Potenzial. Wir wissen, dass eine Revolution aussehen kann wie ein liegender Körper in einem Bett, der nicht zur Arbeit gehen kann.“ [6] Bereiten die liegenden Körper den Aufstand vor? In The Boxer entfalten sie besondere Wirkmacht, wenn die Performer*innen über den Boden gleiten, ihre Haut dabei am Parkett kleben bleibt und unangenehm quietschende Geräusche produziert oder wenn sie die Bewegungen der Museumsbesucher*innen stören. Immer wieder kommt es zu Situationen, in denen sich die verschiedenen Körper gegenseitig be- und verhindern. In den meisten Fällen passiert dies genau dann, wenn absorbierte Zuschauer*innen mit ihren Smartphones dazu ansetzen, ein Foto der ‚widerständigen‘ Körper zu machen, um sie womöglich als weitere, nun gefügig gemachte Körper auf einer sozialen Plattform einzureihen.
Als meine Beine müde werden und mein Magen zu knurren beginnt, spüre ich den Widerstand meines eigenen Körpers. Es dürfte der Künstlerin kaum darum gehen, die Zuschauer*innen in Manier der Body Art an ihre körperlichen Grenzen zu führen. So steht es dem Publikum auch offen, während der Performance zu sprechen, sich frei durch die Räume zu bewegen oder diese zwischendurch ganz zu verlassen. Und doch bleibt zu fragen, welche Implikationen eine mehrstündige Performance auf die anwesenden Körper hat. Nach einer Stunde beginnen sich die Räume jedenfalls zu lichten; die meisten sind nach unten zum Buffet übergegangen. Übrig bleiben vor allem diejenigen, deren Körper es erlauben, länger auszuharren. Wer genau hier die widerständigen Körper sind, und ob es nicht gerade diejenigen sind, die sich der Disziplin widersetzen und unten eine Bratwurst essen, bleibt dahingestellt.
„Grace Schwindt: Defiant Bodies“, Kunstmuseum St. Gallen, 17. September 2022 bis 5. Februar 2023.
Charlotte Matter ist Kunsthistorikerin. Sie lehrt an der Universität Zürich und koordiniert den Masterstudiengang Kunstgeschichte im globalen Kontext.
Image credit: Courtesy of the artist and Zeno X Gallery, photos Sebastian Stadler
Anmerkungen
[1] | Fannie Lou Hamer, Ansprache mit Malcolm X in der Williams Institutional Christian Methodist Episcopal Church in Harlem, New York, 20. Dezember 1964, nachgedruckt in: The Speeches of Fannie Lou Hamer: To Tell It Like It Is, hg. von Maegan Parker Brooks/Davis W. Houck, Jackson 2011, S. 57–64, hier: S. 62. |
[2] | Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. von Walter Seitter, Frankfurt/M. 1977, S. 175. |
[3] | Ebd., S. 177. |
[4] | Tobin Siebers, Disability Aesthetics, Ann Arbor 2010, siehe insbesondere das Kapitel „The Aesthetics of Human Disqualification“, S. 21–56. |
[5] | Tricia Hersey, auch bekannt als „The Nap Bishop“, hat unlängst ein brillantes Manifest über die Wirkmacht von Erholung, Tagträumen und Nickerchen aus einer intersektionalen Perspektive publiziert. Tricia Hersey, Rest Is Resistance: A Manifesto, New York 2022. |
[6] | Johanna Hedva, „Get Well Soon“, März 2020, ; letzter Zugriff 21. September 2022, [Übersetzung Ch. M.]. |