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LEERSTELLEN IN DER VERGANGENHEIT, RISSE IN DER GEGENWART Sven Beckstette über Dierk Schmidt im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid

Im Parque del Retiro, dem ehemaligen königlichen Park in Madrid, steht der Palacio de Velázquez. Benannt nach seinem Architekten Ricardo Velázquez Bosco, wurde das Gebäude für die nationale Bergbauausstellung von 1883 sowie weitere koloniale Präsentationen errichtet. Im Inneren besteht die neoklassizistische Halle aus Eisenträgern, die eine gewölbte Glasdecke stützen, sodass der Raum in helles Tageslicht getaucht ist. Heute betreibt den Bau das spanische Nationalmuseum Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía als Außenstelle.

Aufgrund des weitläufigen Innenraums mit seinen dünnen Stützen scheint der Palacio wenig geeignet für Ausstellungen von Malerei. Für den Maler Dierk Schmidt jedoch, dem das Reina Sofía hier zwischen Oktober 2018 und März 2019 eine umfangreiche Retrospektive widmete, hätte der Ort nicht idealer sein können; denn Schmidt setzt sich in seinem Werk mit der Repräsentation von Geschichte im Verhältnis zur Gegenwart auseinander, weshalb der Künstler häufig die Modi der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts einer kritischen Revision unterzieht. Dies gilt insbesondere für die europäische Kolonialvergangenheit, von deren imperialistischer Haltung der Palacio de Velázquez Zeugnis ablegt. Und nicht zuletzt gleicht das Gebäude mit seinem Tonnengewölbe aus Glas einem riesigen Schaukasten, wodurch die Dekonstruktion der Präsentations-rhetorik im Schaffen von Schmidt eine deutliche Betonung erfuhr.

Beim Betreten der Halle wirkte die Ausstellung nicht unbedingt so, als ob es hier um Malerei ginge. Die Anordnung von Schmidts Arbeiten sowie die verwendeten Materialien vermittelten eher den Eindruck von Installationskunst: Ein Archivschrank und eine leere Vitrine waren aufgrund ihrer Gebrauchsspuren als gefundene Gegenstände identifizierbar; ein Gerüst mit einer farbigen Plane holte den Außenraum ins Innere und ließ an Werbebanner vor Fassadenarbeiten denken; dahinter hing eine transparente, bemalte Folie wie eine dünne Projektionsleinwand frei von der Decke; Konstruktionen aus Metall und Glas, auf denen geometrisch-abstrakte Tafeln befestigt waren, dienten als Wandelemente wie auf einer Messe; auf dem Boden waren vier durchsichtige Plexiglasscheiben platziert, bemalt mit Fragmenten aus Linien und Flächen, auf denen eine Plastiktüte lag. Selbst die tatsächlichen Bilder, die zusammen mit Vitrinen sparsam über die bestehenden Wände verteilt waren, bestanden aus unüblichen malerischen Trägern, vor allem durchscheinenden Werkstoffen wie Glas, Plexi-glas und Kunststofffolie.

Entsprechend dem Ausstellungstitel „Guilt and Debts“ – Schuld und Schulden – hatte der Künstler den symmetrischen Grundriss des Palacio de Velázquez in zwei Bereiche geteilt: Im linken Flügel befanden sich die Arbeiten, in denen das Thema „Schulden“ in einer eher subjektiv-biografischen Weise behandelt wurde, während auf der rechten Hälfte Werke zum Komplex „Schuld“ angeordnet waren, deren Genese eng mit einer häufig kollektiven Recherchepraxis und einem objektivierenden Ansatz verbunden ist. Neben dem politischen Gehalt der Werke machte die Ausstellung ebenfalls deutlich, dass für Schmidt Malerei und das Herstellen von Bildern nur ein reflexiver Prozess sein können, bei dem alle Komponenten des Mediums zur Disposition stehen und beständig überprüft und neu verhandelt werden müssen.

„Dierk Schmidt: Guilt and Debts“, Reina Sofía, Madrid, 2018/2019, Ausstellungsansicht

„Dierk Schmidt: Guilt and Debts“, Reina Sofía, Madrid, 2018/2019, Ausstellungsansicht

Die ältesten Arbeiten befanden sich in dieser Konzeption auf der linken Seite in an die zentrale Halle angrenzenden Kabinetten. Die drei großformatigen Gemälde Denk Alles – o. T. – Lauf weg (1995) sind noch in Öl auf Leinwand angefertigt. Großformatig und monochrom in Gelb bzw. Weiß gehalten, überziehen unregelmäßige Muster aus schablonierten Ovalen die Bildfläche. Hierin eingeschrieben sind die titelgebenden Aufforderungen „Denk Alles“ und „Lauf Weg“ sowie wiedererkennbare Formen wie Autofronten und ein Dinosaurierfuß. Schon hier vereint Schmidt unterschiedliche Modi wie Abstraktion und Gegenständlichkeit, Schrift und Abbild, Fläche und perspektivischen Raum zu einer Komposition, in der die Leerstellen die widerstreitenden Elemente in der Balance halten.

In der zwei Jahre später entstandenen Gruppe McJob (1997−2002) erhalten die freien Flächen eine stärkere konzeptuelle Bedeutung, da Schmidt unbemalte Bereiche nun nutzt, um mit ihnen die gemalten Passagen zu akzentuieren und den Blick zu lenken. Mit diesen drei Bildern lässt der Künstler auch die Leinwand als Träger hinter sich und beginnt, transparente Folien als Bildgrund zu verwenden, bei deren Installation die Wand durchscheint und zum Teil des Werks wird. Inhaltlich behandelt Schmidt seine ökonomische Situation, indem er etwa seine Niedriglohntätigkeit als Anstreicher malte. Die dünne und billige Folie spielt auf seine prekäre finanzielle Lage an, wodurch die Materialität des Trägers eine metaphorische Aufladung erfährt. Während Schmidt über die Wahl seines Untergrunds zum einen den malerischen Gehalt der Bilder zurücknimmt, hebt er den Auftrag der Farbe dafür zum anderen umso deutlicher hervor.

Ein erstes dezidiert historisches Thema folgt danach im Komplex I Know Something … You Don’t Know … „When Opinion Becomes an Occasion for Calculations“ (2001−2006). Ausgangspunkt für den Zyklus ist eine Untersuchung zur Verflechtung des Technologiekonzerns IBM mit dem Holocaust. Schmidt entwickelte um die Übernahme von Verantwortung und Anerkennung von geschichtlicher Schuld eine fiktive Diskussion, die er als Disput zwischen einem Journalisten und Vertretern aus Politik und Wirtschaft in eine Fernsehtalkshow verlegt: Zwei Folienbilder zeigen Stills aus dem erfundenen Zusammentreffen. In dem abgedunkelten Raum mit zwei Stühlen erscheinen sie tatsächlich wie Videobilder, die auf Pause gestellt sind.

Zur selben Zeit entsteht eine Werkgruppe zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, der vor allem von konservativer und westdeutscher Seite vorangetrieben wurde. Bei Berliner Schlossgeister (2002−2004) verlassen Schmidts Bilder die Wände und treten in den Raum. Berliner Schlossgeister #2 in der Halle besteht aus einem Baugerüst und einer Plane. Diese Konstruktion verweist auf die Anfänge der Wiedererrichtungsidee kurz nach dem Ende der DDR: Schon 1993 wurde ein lebensgroßes Modell der Schlossfassade in der Mitte Berlins platziert. Um Geld für das Vorhaben zu sammeln, zerteilte man die bemalte Plane der Simulation und verkaufte die einzelnen Stücke. Schmidt erwarb einige dieser Bahnen und übermalte sie mit maskenhaften Porträts von Befürworter*innen der Rekonstruktion des Vorkriegs-Berlins. In diese Versammlung von Köpfen hat Schmidt zudem eine rote Farbbombe geworfen, in deren abstrakten Spritzern sich die malerische Geste des Widerstands gegen diese Geschichtsrevision verdichtet.

Sowohl I Know Something … als auch Berliner Schlossgeister lassen Verweise auf die Malereigeschichte des 19. Jahrhunderts – vor allem auf Werke von Édouard Manet und Adolph Menzel – erkennen, die eng mit der Frage des Realismus und damit der Beziehung von malerischer Darstellung zur Wirklichkeit verbunden ist. Den Übergang in die zweite Hälfte der Ausstellung markiert die umfangreichste Werkgruppe von Schmidt, der Zyklus Teilung der Erde – Tableaux zu rechtlichen Synopsen der Berliner Afrika-Konferenz (2005−2011), deren beide Versionen hier zum ersten Male zusammen ausgestellt wurden. In ihnen setzt sich der Künstler mit dem Modus der geometrischen Abstraktion auseinander. Die größere Fassung, die 2007 für die Documenta 12 konzipiert wurde, stand im rechten Teil der Halle, präsentiert auf frei stehenden Glaswänden. Zwar kehrt Schmidt in der Arbeit zur Leinwand als Trägermaterial zurück. Durch die Hängung auf den Glaswänden, durch die die Rückseiten der 14 Tafeln sichtbar waren, verwandelten sich die Bilder allerdings in dreidimensionale Objekte, die ihre eigene Konstruktion offenlegten.

Dierk Schmidt, „Die Teilung der Erde / The Division of the Earth“, 2007

Dierk Schmidt, „Die Teilung der Erde / The Division of the Earth“, 2007

Im Unterschied zu den Werken von I Know Something …, bei denen die Frage nach historischer Verantwortung auf einer fiktiven Ebene verhandelt wird, geht es in Teilung der Erde um Schuld und ihre juristische Aufarbeitung. Wie der Titel erklärt, ist der Bezugspunkt hier die Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85 (die also kurz nach der Bergbauausstellung im Palacio de Velázquez stattfand), auf der die europäischen Kolonialmächte die Aufteilung des afrikanischen Kontinents rechtlich festlegten. Einen besonderen Fokus legt Schmidt auf den Genozid an den Herero und Nama im heutigen Namibia durch deutsche Truppen. Die Grundsatzfrage für den Künstler ist, wie sich das Verhältnis der sachlichen Rechtsdokumente zu ihren brutalen Konsequenzen ins Bildhafte übertragen lässt. Um sich von der kolonialen Rhetorik der Texte zu distanzieren, entwickelte Schmidt ein Zeichensystem, in dem die abstrakte Sprache der Gesetze schaubildhaft in die Abstraktion der Malerei transportiert wurde. An Landkarten erinnernd, verweisen die Leerstellen in diesem Fall auf die kolonialistische Landnahme der als unbewohntes Niemandsland klassifizierten Gebiete. Der Zyklus ist außerdem ein Beispiel für die kollektive Arbeitsweise von Schmidt: Bei der Vorbereitung der Bilder hat der Künstler mit Rechtsanwält*innen, Historiker*innen, Aktivist*innen und Studierenden in Deutschland und Namibia zusammengearbeitet und die gemeinsame Forschungsarbeit in einem Katalog und Rechercheband veröffentlicht.

Die Beschäftigung mit dem Kolonialismus und seinen Folgen sowie die Pläne, in das wieder errichtete Stadtschloss die Sammlungen des ethnologischen Museums in Dahlem einzugliedern, führte bei Schmidt dazu, sich auch mit den Objekten in Museen und ihrer kolonialen Herkunft zu beschäftigen. Als Symbol für diese Diskussionen dienen ihm Vitrinen, die die Artefakte zugleich schützen und präsentieren, wie in den Werken der Broken Windows-Serien. In den sechs Schaukästen von Broken Windows 6.3 (2014/2016) wird der rechtliche Status von Objekten in europäischen Museen verhandelt, deren Verantwortliche einer möglichen Restitution vielfach mit dem Argument begegnen, dass sie als -Universalmuseum das kulturelle Erbe der gesamten Menschheit bewahren und dem Publikum und der Forschung zugänglich machen.

Die Leerstellen werden in die Vitrinen verlegt, die zumeist bloße Hüllen ohne ein Inneres sind. Der malerische Eingriff findet auf den Glasflächen statt. Hier hat Schmidt zum einen juristische Argumentationen aufgeführt, in denen etwa die Ablehnung der Rückgabe dieser Kultur-gegenstände als politisch motiviert bloßgestellt wird. Andere Hauben wiederum scheinen aufgrund der Auseinandersetzungen, die um ihre Inhalte geführt werden, dem Zerspringen nahe, weisen sie doch Kratzer und Sprünge auf. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass diese Zeichen von Belastung und Druck mit weißer oder schwarzer Farbe täuschend echt aufgetragen wurden. Eine subtilere und zugleich sinnhaftere Kritik am westlichen Museumskonzept und den Besitzverhältnissen von unrechtmäßig erworbenen Exponaten lässt sich mit den Mitteln der Malerei wohl nicht erreichen. Die zeitgenössische Historienmalerei von Dierk Schmidt zeugt von einem Bewusstsein für die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit und der Verpflichtung, die hieraus erwächst.

„Dierk Schmidt: Guilt and Debts“, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid, 9. Oktober 2018 bis 10. März 2019.

Titelbild: Dierk Schmidt, „Denk Alles – o.T. – Lauf weg“, 1995