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Der Horror, Vacui von Colin Lang

Lloyd Bacon (Busby Berkeley), „Footlight Parade“, 1933, Filmstill

Lloyd Bacon (Busby Berkeley), „Footlight Parade“, 1933, Filmstill

Welche Herrschaftsmodelle, welche Mechanismen der Macht werden zurzeit in den USA geschaffen? Sind sie neu oder lediglich Neuauflagen einer altbekannten Geschichte? Klar ist: Die Medienkanäle, durch die sie zirkulieren, sind neu, auch wenn ihre Besonderheiten weithin unbeachtet zu bleiben scheinen.

Wie also eine Analyse formulieren, eine kritische Sprache entwickeln, um zu einer Einschätzung des Autoritarismus 2.0 zu gelangen? Der Kritik, wie sie in dieser Zeitschrift praktiziert wird, ist es immer darum gegangen, die formale Struktur von Werken, egal in welchem Medium, zu bestimmen. Was, wenn wir unsere Werkzeuge anders zur Anwendung brächten, statt das Politische einzig auf der inhaltlichen Ebene zu betrachten? Der folgende Text ist ein zaghafter Versuch, die Umrisslinien eines solchen Unternehmens herauszu­arbeiten.

Sie kommen in Scharen. Überall auf den Bildschirmen poppen kleine weiße Kästchen auf. In einstudierter Routine wird das immer Gleiche immer wieder durchgekaut. Nur die Leser*innen sind andere, nicht die Absender*innen oder jedenfalls nicht diejenigen, die am meisten schreiben. Es ist eine kleine Kunst: keine Sachkenntnis, keine Ideen, nur ein endloser Schwall von Meinungen und Reaktionen und Meinungen zu den Reaktionen. Jede Nachricht ruft eine kleine Panik hervor – darin liegt die Kunst. „Man entledige sich doch des Wahns, daß es auch nur in der Hauptsache die großen Geschehnisse seien, die den Menschen bestimmen. Tiefer und dauernder beeinflussen ihn die winzigen Katastrophen, aus denen der Alltag besteht, und gewiß ist sein Schicksal vorwiegend an die Folge dieser Miniaturereignisse geknüpft.“ [1] So Siegfried Kracauer in „Die Angestellten“, einer Studie, die zuerst als regelmäßige Kolumne in einer Zeitung erschien. Heutzutage fällt es den Zeitungen schwer, mit den immer schneller eintreffenden Nachrichten Schritt zu halten; meistens scheinen sie verdammt, über das zu berichten, was jeder von uns in den kleinen weißen Kästchen bereits gelesen hat. Heißt das, dass auch die Interpretation dazu verdammt ist, immer nach der Tatsache zu kommen, ohne die Fähigkeit, vorauszusehen und Orientierungshilfe zu leisten für das, was ohne solche Hilfe zu überfordernd ist?

Llyn Foulkes, „The Wall“, 2017

Llyn Foulkes, „The Wall“, 2017

Was aber, wenn die „winzigen Katastrophen“, wie Kracauer sie nennt, sich wie wichtige Ereignisse anfühlen, wenn sie die Macht gewinnen, die Menschen wie vom Donner gerührt dastehen zu lassen, wie eine Kriegserklärung, ein Erd­beben oder andere Vorkommnisse von erheblicher Tragweite es früher taten (und vielleicht immer noch tun)? Kracauer ist für vieles bekannt, vor allem aber wahrscheinlich für die Prägung des Begriffs „Ornament der Masse“ zur Beschreibung einer bestimmten Form der Organisation einzelner Körper – sein berühmtestes Beispiel waren die Tiller Girls – in einer öffentlichen Darbietung, ihrer Verschmelzung zu einem kollektiven Körper, in dem ein bestimmtes Ende der Vorstellung von Individualität deutlich wurde. Für Kracauer war das Ornament der Masse vor allem ein Bild, etwas, das eine bestimmte Art des Sehens hervorbrachte, das die Blicke der Zuschauer*innen auf sich zog und sie – im übertragenen, aber auch im Wortsinn – „fesselte“. Über die Organisation von Körpern zur Masse schreibt er: „Am Ende steht das Ornament, zu dessen Verschlossenheit die substanzhaltigen Gefüge sich entleeren.“ [2] Verschlossenheit und Entleerung sind womöglich Stichworte, mit denen sich begreiflich machen lässt, was eine Neuauflage des von ihm erfassten Phänomens sein mag: nicht das Ornament der Masse, sondern die Massenansprache . Statt Körper im Bild der Masse zu bannen, zeigt der Tweet ein Bild, das das Publikum nicht weniger fesselt. Natürlich fehlt hier die Arena, die öffentliche Versammlung, in der wir schauen und im Schauen die Verschlossenheit und Entleerung, die sich vor unseren Augen abspielt, mimetisch nachvollziehen. Tweets sind blind oder blendend (ich weiß es nicht zu unterscheiden) – ein Bild, das uns unsichtbar macht. In der Ansprache der Masse ist nicht mehr klar, dass es einen irgendwie gearteten kollektiven Körper gibt, der nun durch sein Bild ersetzt wird oder an den diese Bilder der Tweets gerichtet sind: ein Massenmedium, nur ohne Massen. Dies als Linie, die von den Tiller Girls zu Trump führt.

Denn Twitter in Trumps Händen, mit der Dystopie, die unablässig aus seinen Kanälen strömt, ist ein Massenmedium durch und durch, insofern als eine anonyme Menge Einzelner (wenngleich natürlich nicht jeder; man kann sich Twitter anders vorstellen, und diese Vorstellungen werden auch umgesetzt) Zugang zu ihm hat. Doch Kracauers Kritik des Ornaments der Masse beschränkte sich nicht auf reine Ablehnung. Seine Beobachtungen zielten darauf, das Auftreten eines Mediums der populären Unterhaltung zu beschreiben, das er zu den „vereinzelten Gestaltungen der Zeit, die einem vorgegebenen Material die Form verleihen“ [3] , zählte. Hier bedient sich der Ingenieur und Architekt Kracauer, der spätere Feuilletonchef der Frankfurter Zeitung , einer Sprache der Kritik, um die besonderen Gefüge der Populärkultur und ihre politischen Implikationen zu bewerten. Ob im Feld der Literatur, des Films oder der Kunst: Eine Kritik, die von Form und Inhalt spricht, wenn es um junge Frauen geht, die ihre Körper in Posen gruppieren, um Bilder entstehen zu lassen, die aus einigem Abstand betrachtet werden wollen, ist zumindest sehr eigenwillig. Kracauers Bezeichnung für diese ornamentale Anordnung ist „monströse Figur“. [4] Lässt sich analog in der heutigen Situation in den USA die Monstrosität an einer Figur festmachen?

Llyn Foulkes, „Welcome“, 2016

Llyn Foulkes, „Welcome“, 2016

Wenn der Einsatz von Twitter zur Herstellung einer Art Massenansprache tatsächlich charakteristisch für das derzeitige Trump-Regime ist (die Betonung liegt auf dem „wenn“), was sagt das über die beinahe kriminalistische Erforschung und Verteidigung von Wahrheit, die mittlerweile innerhalb wie außerhalb der USA die am weitesten verbreitete Reaktion darstellt? Verschlossenheit und Entleerung sind Gesten, die allzu sehr der brachialen materiellen Wirklichkeit entsprechen, die die Massenansprache durchgesetzt hat. Denn genau dort liegt die Gefahr in der gegenwärtigen Lage, die nicht nur neuartig ist (allen reflexartigen Analysen dessen zum Trotz, was Menschen in der Vergangenheit unter dem Faschismus widerfahren ist), sondern neue Formen der Analyse verlangt, deren Ausgangspunkt die Anerkennung der Tatsache sein muss, dass diese Gefüge inhaltslos geworden sind. Sogar das einst umkämpfte Feld der Sprache, in dem man womöglich wie Paulo Freire eindeutig die Sprache des Unterdrückers von jener der Unterdrückten unterscheiden konnte, wird zum undurchdringlichen Morast. Was etwa wäre heute die „Sprache des Volkes“ [5] , und worin unterschiede sie sich von der Rhetorik von Trump und seinen Kumpanen? Wo ließe sich eine linguistisch-formale Grenzlinie ziehen, wenn eben die Plattform, über die die Macht spricht, auch den von den Auswirkungen ihrer Entscheidungen am ärgsten Unterdrückten zugänglich ist? Kurz, was kann man über die linguistischen Strukturen begreifen, in denen die Macht spricht, wenn die Mächtigen ohnehin unsere Sprache zu sprechen scheinen? Das bedeutet nicht, dass alle gehört werden, natürlich nicht. Wem das Rederecht verweigert wird, ist immer noch ein entscheidender Streitpunkt. Aber die Operationen kritischen Widerstands, die Freire entwirft, sind an bestimmte Manifestationen (also Formen) der Macht und der Unterdrückung gebunden, die, so meine ich, zwar noch existieren, aber durchaus nicht zentral sind.

Tag für Tag wird die Wahrheit in Amerika verdreht, auf den Kopf gestellt und verhöhnt. Das Verhältnis des Trump-Regimes zu überprüfbaren und nachweisbaren Tatsachen hat etwas von groteskem Querdenkertum; die rhetorischen Volten sind geradezu quälend theatralisch. Man fühlt sich an Michail Bachtins Abhandlung über den Karneval erinnert, ein ehedem populäres Medium, das seine eigenen Gesten der Entleerung von Wahrheit hatte. Die Wahrheit, aber auch Hierarchien wurden spielerisch ins Gegenteil verkehrt, die Mächtigen gehänselt; dazu mussten alle Seiten mitmachen und vor allem Masken tragen. War der eigene gesellschaftliche Stand, aus dem es (jedenfalls in der mittelalterlichen Form, auf die Bachtin sich konzentriert) kein Entrinnen gab, einmal verborgen, dann war der Belustigung Tür und Tor geöffnet, das Unterste wurde zuoberst gekehrt; es war der Umsturz aller Ordnung und vor allem der Institutionen der Macht selbst (und der Gestalten, die für sie standen), die nun johlten und Spott und Hohn über alles, was eben noch heilig war, ausgossen. Bachtin nennt es die „volkstümliche Groteske“. In ihr, so schreibt er, ist „Verrücktheit eine heitere Parodie der offiziellen Vernunft, des bornierten Ernsts der ‚offiziellen Wahrheit‘“ [6] . Klingt vertraut?

Hier gilt es, mindestens eine wichtige strukturelle Unterscheidung zu treffen bezüglich des Verschwindens der Massen in der Massenansprache. Bachtin war überzeugt, dass die Formen des Karnevals niemals durch die Mächtigen, die Zielscheiben seines Spotts, zu vereinnahmen sein würden. Genau das ist der Haken angesichts einer wahrhaft vulgären Wirklichkeit, die grotesker ist als alles, was Bachtin sich vorstellen konnte: Was ist, wenn die Mächtigen selbst der Karneval sind ? Lächerlichkeit und Umsturz der Macht sind Wirklichkeit geworden, aber dem Trump-Regime ist es gelungen, die Befreiung von allen gesellschaftlichen Schranken, die mit dem Karneval in Bachtins Beschreibung einherging, zu durchkreuzen. Zudem, das darf man nicht vergessen, sind Hierarchien in der Trump’schen Version nicht auf den Kopf gestellt worden, vielmehr werden sie unter zunehmendem Einsatz von Gewalt und Mitteln der Kontrolle aufrechterhalten. Das heißt, der König hat, um es mit Ernst Kantorowiczs Formulierung zu sagen, [7] keine zwei Körper mehr. Diese „monströse Figur“ ist weniger teilbar als ihre Vorgänger (die in einen symbolischen und einen realen Körper zerfielen): eine Immanenz­ebene der Tiraden, des Zorngebrülls und Kriegsgeschreis, jeder Tweet niederträchtiger als der davor. Eine solche Manifestation politischer Macht lässt sich nicht gefahrlos entlang diskreter Grenzlinien zwischen Akteur*innen und ihren Übertragungsmedien auseinandernehmen, noch kann ihre Analyse einzig auf die Stellung setzen, die jemand innerhalb der Hierarchie einnimmt. Die Kritik muss, wie Kracauer gezeigt hat, zu begreifen suchen, auf welchen Wegen diese „Gestaltungen … einem vorgegebenen Material die Form verleihen“. Müsste ein solches Projekt das mutmaßliche Ziel des Karnevals – die (wenn auch nur vorübergehende) Befreiung von diesen Formen von Macht und Kontrolle – aufgeben? Wenn wir es hier tatsächlich mit einem ganz anderen Karneval als dem von Bachtin bewunderten, aber dennoch mit Karneval zu tun haben, sollte die Bewegung der Kritik vielleicht nicht auf ein maskiertes Kollektiv, sondern auf eine demaskierte Masse abzielen, deren Handeln es auf Entlarvung abgesehen hat.

Auch die heutigen Verteidiger*innen der Wahrheit zielen auf eine Art Entlarvung ab, bleiben dabei aber auf die Ebene der Inhalte fixiert: auf eben das, was, so Kracauers Warnung, aller Begrifflichkeit entleert ist. Wenn wir uns an inhaltliche Analyse klammern, dann kann das, fürchte ich, im Grunde nur auf zwei Lösungen hinauslaufen: Entweder wollen wir die Ordnung wiederherstellen (wenn überhaupt, liegt hier der wichtigste Anknüpfungspunkt für die vielen Anspielungen auf die Geschichte des Faschismus: die Sehnsucht nach der Rückkehr zur Ordnung) – oder aber wir wünschen uns einen besseren Karneval. Meine Hoffnung ist, dass wir ganz in der Tradition der kritischen Sprache, die Kracauer und andere Wegbereiter*innen entwickelt haben, unsere besonderen Kompetenzen nicht aus der Hand geben, sondern die einzelnen Formen dieses barbarischen Karnevals und seine konkreten Manifestationen in Kanälen untersuchen, die hinsichtlich des Inhalts, den sie generieren, durchaus zwiespältig sind. Vielleicht bringt das Amerika auf den Punkt: die Spannung zwischen dem Wunsch nach Befreiung, die sich im Karneval ausdrückt, und der allgegenwärtigen brutalen und gewaltsamen Einschreibung von Hierarchie und Macht. Diese beiden, so scheint es, können nicht ohne einander.

Womöglich lässt sich nur mit einigem Abstand das Durcheinander sortieren und lernen, wie man in einer Sprache widersprechen kann, die von Intelligenz und Sachkenntnis zeugt – von der Zeit, die nötig ist, den Raum zwischen uns und dem Dauerfeuer der Tiraden zu vermessen. Abstand freilich ist die wahre Karnevalsmaske, denn ohne vorübergehenden Abschied vom Status quo – ohne die Möglichkeit, aufzubrechen, was für die Ewigkeit gefügt, versperrt oder unbeweglich scheint – gibt es keine Kritik. Letztlich lässt sich diese neueste Form präsidentieller Verlautbarung nur bekämpfen, indem wir uns von ihr ab- und unserer Angst vor der Leere zuwenden – dem Horror vacui, der so eng mit dem Ornament verwandt ist –, um tatsächlich einen besseren Karneval ins Leben zu rufen, einen demaskierten Ball (also vielleicht einfach einen Tanz?). Es ist Zeit für den Antikarneval, Zeit, dass der Untergrund ans Tageslicht tritt; Zeit, die Verbreitungsform, die uns gefesselt hält, die Massenansprache, zu besetzen und umzudrehen. Lasst die Clowns in die Manege.

Übersetzung: Gerrit Jackson

Anmerkungen

[1]Siegfried Kracauer, Die Angestellten, in: Werke, Bd. 1, hg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt/M. 2006, S. 258.
[2]Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M. 1977, S. 52.
[3]Ebd., S. 54.
[4]Ebd., S. 54.
[5]Paulo Freire/Donaldo Macedo, Literacy. Reading the Word and the World, London 1987, S. 109.
[6]Mikhail Bakhtin, Rabelais and His World, trans. Helene Iswolsky, Bloomington 1984, S. 39.
[7]Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990.