Cookie Warnung
Für statistische Zwecke und um bestmögliche Funktionalität zu bieten, speichert diese Website Cookies auf Ihrem Gerät. Das Speichern von Cookies kann in den Browser-Einstellungen deaktiviert werden. Wenn Sie die Website weiter nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Akzeptieren

222

Term(s) of Endearment Kathi Hofer über „Milieu“ bei after the butcher, Berlin

Das Wort „Milieu“ ist ein ziemlicher Trigger. Man liest es – und während man denkt, man weiß Bescheid, will man es doch genau wissen: Welches Milieu? Welche Definition und konkrete Verwendung eines lang dienenden, dehnbaren Begriffs? In den aktuellen Debatten um Ursachen und Phänomene von politischem, gesellschaftlichem und ökologischem Klimawandel ist er gegenwärtig wieder zu einer Kategorie der Zeitumstände geworden. Als Titel einer Ausstellung zeitgenössischer künstlerischer Positionen schürt er daher die Erwartung einer Positionierung. Welchen Standpunkt in der Debatte nimmt also die Gruppenausstellung „Milieu“ ein?

Die Künstlerinnen Mirjam Thomann und Jenni Tischer haben nun aber eine Ausstellung konzipiert, die dem Reflex zur statementhaften Positionierung widersteht. – „Und Ihr Milieu?“, kontern sie in einem gemeinsam verfassten Text, der am Eingang ausliegt. Die etwas sperrige Gegenfrage, die klingt wie aus einem statistischen Fragebogen, ist indes ein eleganter rhetorischer Clou: In der höflichen Adressierung der zweiten Person artikuliert sich ein Unwille zur griffigen, ichbezogenen Stellungnahme wie zur posenhaft duzenden Solidarisierung mit Dritten. Im selben Text finden sich abschließend einige diskursgeschichtliche und -theoretische Standardwerke über den Milieubegriff zur bündigen Referenzliste zusammengekürzt. Es ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Angebot zur nachträglichen (Re-)Lektüre. Milieu“ ist zunächst: ein provisorischer Titel.

Zuallererst fällt auf, wie präzise die Ausstellung im Raum- und Ortsbezug platziert ist. Da ist einmal ihr Schauplatz: Berlin-Lichtenberg, Spittastraße 25. An dieser Adresse, zur DDR-Zeit eine Fleischerei, rief das Künstler*innenpaar Franziska Böhmer und Thomas Kilpper vor zwölf Jahren den Projektraum after the butcher ins Leben. Es ist eines der ersten Betonhäuser Europas und eines der letzten verbliebenen. Seine Bausubstanz wurde bewahrt und steht heute unter Denkmalschutz. An der Außenmauer zum Hinterhof befindet sich hier, auf Höhe des ersten Obergeschosses, die Arbeit „Nistkasten“ (1992) von Maria Eichhorn, die permanent am Gebäude verbleiben wird und erst dann vollendet ist, wenn Vögel darin brüten. Dank dieser Intervention ist ein urbanes Habitat im Entstehen, das mich an den Ausdruck „Milieuschutzgebiet“ denken lässt – einen Begriff, der eigentlich im Kontext städtebaulicher Maßnahmen in Berlin gegen Luxussanierungen und preistreibende Dachausbauten steht. Eine weitere Arbeit wurde als straßenseitiger „Zubau“ permanent installiert: „Concrete Mixer in Concrete“ (2018) der Dänin Siska K. Jørgensen ist ein minimalistisches Hybrid aus Readymade und Betonruine, das in seiner parzellenhaften Geometrie die rechteckig umzäunten Eingangsbereiche der Nachbarhäuser – und damit eine ungleich düsterere (Kiez-)Entwicklung – reflektiert. Betritt man den Ausstellungsraum von der Straße her, fällt der Blick zuerst auf „Palme in Kreuzberg“ (1984) der britischen Künstlerin Marilyn Green an der stirnseitigen Wand. Gemalt in Acryl auf Papier und hinter Glas gerahmt ist das Bild so gehängt, dass sich der Umraum von jedem denkbaren Blickpunkt aus ein wenig in ihm spiegelt. Die gebürtige Londonerin Marilyn Green war in den 1980er Jahren zum Studium nach Berlin gezogen, wo sie bis heute lebt. In der damals geteilten Stadt entstand „Palme in Kreuzberg“ im ummauerten, inselhaften Westberlin: dem amerikanisch verwalteten Kreuzberg, das Green in einem gestischen Exotismus darstellt. Die aktuelle Übersiedlung des Bildes nach Lichtenberg, dem ehemaligen Osten, ist eine quasirevisionistische Geste: Die Utopie der Einheit vor dem Mauerfall ist momentan real geworden. „Milieu“ manifestiert sich hier als „Umgebungswissen“ [1] und als Durchgangszone zwischen Träumerei und Lebensraum.

Die emphatische Maßstäblichkeit der versammelten Arbeiten in ihrer Relation hat indes den Charakter einer exemplarischen Setzung. Mit ihr geht die Erkenntnis einher, dass „Milieu“ immer ein Verhältnis ist: eine Verhältnismäßigkeit und ein (gesellschaftlich normiertes) Verhalten. Jenni Tischer zeigt eine Wandinstallation aus 70 quadratischen Fliesen, die in Feinarbeit mit Farbpigmenten und Putzmitteln behandelt und dann rasterförmig zum abstrakten Mosaik angeordnet wurden. An ihren pastelligen Farboberflächen mag man sich nicht sattsehen, doch die feinen Unterschiede, die ihre Herstellung von gängiger Malerei absetzen, vermögen sie nicht zu verdecken: „Dirty work is divided down the lines of class, race and gender“ (2018). Während diese Arbeit wie eingelassen wirkt in den teils gekachelten ehemaligen Fleischerladen, ist Mirjam Thomanns Skulpturengruppe von acht auf Minidrehbühnen kreisenden, fleischfarbenen Knoten tatsächlich an ihn angeschlossen: Entlang der verfügbaren Steckdosen platziert, beziehen diese „Revolving Knots in a Room“ (2018) sichtbar ihre elektrifizierte Vitalität aus ihm. Thomann greift hier die Installation „Knots in a room" der US-amerikanischen Land-Art-Künstlerin Mary Miss von 1969 auf.

Ein Merkmal der Schau ist das vollkommene Fehlen klassischer Dokumentarformate, überhaupt von Fotografie als bevorzugtem Medium sogenannter Milieustudien. In der medienübergreifenden Ausstellung markiert dieses Fehlen ein erneutes Abwehrmanöver gegen den Reflex, „Milieu“ als beschreibende Kategorie zu fassen – im Sprechen über Körper. Sprache und Aussprache werden vielmehr selbst körperlich, etwa bei Stephanie Taylor die eine willkürliche phonetische Nachbarschaft der Terme „Broom and Rum“ und „Aluminum“ in ein skulpturales Ensemble aus Aluminium verwandelt, dessen semantischer und lebensweltlicher Zusammenhang durch eine hinzugedichtete Story über einen betrunkenen Hausmeister erst hergestellt werden muss („Broom and Rum“, 2009). Oder in dem experimentellen Drama „Some things in common perhaps“ (2017) des Künstlerduos titre provisoire (Marcel Dickhage & Cathleen Schuster), das Sprachlosigkeit als einzig verbleibenden Bezugspunkt nach der Schockerfahrung der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA inszeniert. Ihren einjährigen Aufenthalt in einem völlig anästhesierten New York 2016/17 verarbeiteten sie zu einer Textmontage, die sie im leerstehenden Gebäude des alten Goethe-Instituts auf der Upper East Side – im Auge des Sturms der Straßenproteste – verfilmten. „Körper“, „Stimme“, „Sprache“, Ort und Milieu treten darin als isolierte Akteure auf, die sich in einer Verfallsspirale umeinanderdrehen, ohne je zur Identität zu gelangen.

In einer von Künstler*innen gemachten Ausstellung in einem von Künstler*innen betriebenen Raum drängt sich die Frage nach der gemeinsamen Position am Ende doch wieder auf. Aber lässt sich über theoretische Begriffe hinaus – vom politisch vereinzelten „Prekariat“ bis zur neoliberalen „kreativen Klasse“, die als positive Identifikationen allesamt nicht taugen – ein Milieu hier definieren? Nicht als Begriff, sondern als Praxis kann dies vielleicht so aussehen wie Katharina Aigners unabgeschlossene, detektivisch-erotische Suche nach dem „Tempel der Freundschaft“ der US-amerikanischen Schriftstellerin Natalie Clifford Barney, die Aigner im Paris der 1920er Jahre vermutet, aber nur aus Romanen und Memoiren der Zeit kennt. Barney verband in ihren Salons Literatur und lesbische Liebe. Aigners performative Re-Lektüre ihrer Werke „I re-read you, always for another first time“ (2018) ist von dem intimen Wunsch getragen, den bislang kaum beachteten Künstlerinnenzirkel für sich und andere zu rezipieren. Ähnlich wie Thomanns Beschäftigung mit Mary Miss steht auch Aigners Milieu-Praxis im Zeichen einer Care Work: Die Kontaktpflege mit anderen Künstler*innen und ihren Werken ermöglicht deren Bewahrung und eine positive Identifikation mit diesen. Es ist Arbeit am Milieu mit anderen Mitteln als jenen des Begriffs: ein reziprokes Aushandeln – hier wie in den anderen Arbeiten dieser Schau – einiger Bedingungen von Produktion, Repräsentation, Selbstbestimmung und Freundschaft. Eine Stärke des Terms „Milieu“ ist es, diese Interpretation gleichzeitig zu- und offenzulassen.

„Milieu“, after the butcher, Berlin, 25. Mai bis 28. Juli 2018.

Titelbild: „Milieu“, after the butcher, Berlin, 2018, Ausstellungsansicht

Anmerkungen

[1]Christina Wessely/Florian Huber, „Milieu. Zirkulationen und Transformationen eines Begriffs“, in: Dies. (Hg.), Milieu. Umgebungen des Lebendigen in der Moderne, Paderborn 2017, S. 7.