Vorwort
Seit den 1990er Jahren hat Texte zur Kunst ästhetische Entwicklungen im Zusammenhang mit politischen Veränderungen verhandelt. In Ausgabe Nr. 105, „Wir sind ihr / They are us“, nehmen wir die dramatischen nationalistischen und xenophoben Entwicklungen in den Blick, die sich derzeit deutlich in verschiedenen europäischen Ländern und den USA zeigen. Im Mittelpunkt des zusammen mit Helmut Draxler, Isabelle Graw und Susanne Leeb konzipierten Heftes stehen dabei verschiedene Formen von Bewegung und Politiken der Migration und der Grenzen (zwischen Menschen, Daten, kulturellen Erbgütern und semiotischen Bedeutungen).
Mit dieser Ausgabe – noch vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen angedacht und unter dem Eindruck der chaotischen ersten Wochen der neuen Regierung fertiggestellt – wollen wir nicht im Takt tagesaktueller Nachrichten auf die Ereignisse reagieren, sondern nehmen uns die Freiheit, die gedrucktes und gebundenes Papier vom digitalen Kommentar wie auf Twitter unterscheidet: Nehmen die Chance wahr auf eine ruhigere und vielleicht distanziertere Reflexion dessen, was wir heute erleben; auf eine Analyse politisch-ästhetischen Denkens in einer Zeit, deren Beschleunigung die Bedeutungen der zugrunde liegenden Begriffe und Ereignisse selbst immer wieder buchstäblich über Nacht verschiebt.
Besondere Aufmerksamkeit gilt auf den folgenden Seiten der Frage, vor welche Herausforderungen Flucht und Migration das politische Denken stellen – Herausforderungen, die hier als Krise der EU und vielleicht der aufklärerischen Werte insgesamt gefasst werden. Wie ist etwa „Gastfreundschaft“, wie Derrida sie (in seiner Kritik der Kant’schen Auffassung von ihrer Bedingtheit) beschrieben hat, unter diesen Umständen zu verstehen? Was passiert, wenn Identitätspolitiken von identitärer Politik verwandeln oder vereinnahmt wird? Und was bleibt unausgesprochen und ungeklärt, wenn wir von „Integration“ sprechen? Und welches „wir“ spricht? Wer sind „sie“? Und sind sie auch wir? Im Dezember setzte Helmut Draxler sich mit der Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev, der Politologin Nikita Dhawan und dem Philosophen Christoph Menke in der Redaktion von Texte zur Kunst zusammen, um über globale Migrationsbewegungen als und ihre Bedeutung für politisches Denken zu diskutieren. Ihr Gespräch, das diese Ausgabe einleitet, stellt auch die Schwierigkeiten dar, derer sich ein linker politischer Diskurs annehmen muss, wenn er sich nicht in seinem historischen Bezugsrahmen verlieren und auch nicht angesichts des fantastischen Theaters der jüngsten politischen Ereignisse in Sprachlosigkeit verfallen will.
Die politischen Unterteilungen von „wir“ und „sie“ ragen nicht nur in die Kunst hinein, sondern gehen auch von dort aus. Susanne Leeb befasst sich mit archäologischen Museen vor dem Hintergrund der Zerstörung von Kulturerbe in Syrien. Sie geht der Frage nach, wie kulturelle Institutionen auf eine bestimmte Weise Subjekt-Objekt-Verhältnisse schaffen, die ein Auseinanderdividieren von Objekten der Geschichte und Akteuren von Geschichte bewirken.
Auf einem ähnlichen Gebiet arbeitet Angela Melitopoulos derzeit an einem Projekt, das unter anderem Teil der Documenta 14 in Griechenland sein wird. Sie berichtet hier von ihrem Versuch, soziale Zusammenhänge so zu gestalten, dass diese den von ihr so genannten Schweigeverhältnissen entkommen. Das sind sowohl die Verbote, über bestimmte Inhalte zu sprechen (etwa die Bedeutung der europäischen Außengrenzen konkret zu machen), als auch die Weisen, auf die diese Themen überhaupt verhandelt werden können.
Brigitta Kuster wiederum untersucht mobile undercommons: Von Hilfe und Hinweisen bei der Flucht bis hin zu Protesten gegen ihre rechtliche Lage meint dies Formen der Selbstbestimmung und gegenseitiger Unterstützung von Flüchtenden auch durch geteilte Erfahrungen. Die künstlerisch forschende Arbeit beider zeigt so Aspekte der Migration, die sich verschiedenen Anforderungen an Identität, Sichtbarkeit oder Erzählbarkeit entziehen.
In den geteilten, unterirdischen digitalen Räumen, die in Onlineforen wie 4chan und Reddit entstehen, lässt sich ebenso ein Informationsuntergrund ausmachen, der derzeit starken Einfluss hat auf das, was sagbar ist. Letzterer bezieht seine Handlungsmacht aus der verdeckten Weitergabe von Daten, dem Angebot von Narrativen und der strikten Geheimhaltung persönlicher Identität. Die dabei infrage stehende Grenze ist die zwischen wirklichem Leben und Cyberspace. Diese Grenze überschreitend, ist daraus die „alternative Rechte“ hervorgetreten. Daniel Keller protokolliert hier deren Entwicklung mit ausgewählten Ereignissen und Bildern in einer Chronik „alternativer Fakten“, einer neuen Kategorie von Informationen, die von dem abweichen, was allgemein als Wahrheit gilt, und die eingesetzt wird, um die in den Mainstream-Medien vermittelten Neuigkeiten wiederum als falsch (als Ausdruck der „Lügenpresse“) zu entwerten.
Sven Lütticken zeichnet den Einfluss kybernetischer Praktiken und Ideen – von der Datenverarbeitung im Kalten Krieg bis hin zur akzelerationistischen Logik von Nick Lands „Dunkler Aufklärung“ – auf die heutige politische Dynamik nach. Wo das Streitgespräch, mit dem das Heft beginnt, den Diskurs verschiedener Trennungen aus seiner Geschichte entwickelt, spricht Lütticken von einer multitemporalen Gegenwart, die zu einer Zukunft gehört, die – ebenso problematisch, wie fantastisch – durch die „Mächte des Falschen“ geprägt ist.
Diese Ausgabe wurde explizit nicht mit einem Schwerpunkt auf die USA (zu diesem Zeitpunkt noch unter Obama) geplant. Doch seit der Wahl Donald Trumps sehen wir die USA Hals über Kopf auf eine Situation zusteuern, die im deutschen Kontext nur allzu vertraut sein dürfte. Seit dem 20. Januar kommen die Einschläge nicht täglich, sondern stündlich – ein monumentales (und bei Drucklegung andauerndes) Spektakel politischer Gewalt als Reality-TV, das als „real“ serviert wird, weil es wirklich geschieht. Das Revival, das die Zeit Trumps prägt, greift Caroline Busta auf und betrachtet hier die rückschrittlichen weiblichen Archetypen, die darin zutage treten: Im schwierigen Verhältnis des 45. amerikanischen Präsidenten zu Frauen (und vielleicht in ihrem zu ihm) erkennt sie Parallelen zu seinem Umgang mit der Nation insgesamt. Mit seinen Übergriffen kehren wir zur Frage der Grenzen zurück, die die verschiedenen Körper auch in ihrem Wohlergehen unterteilen. Weder können diese Grenzen blind abgebaut werden, noch scheint es darum zu gehen, sie einfach zu verteidigen. Im Angesicht der gegenwärtigen politischen Bedingungen gilt es vielmehr, Grenzen und Überschneidungen immer wieder neu zu prüfen.
Übersetzung: Gerrit Jackson