Seit letztem Sommer ist die deutsche Kunstwelt in eine erhitzte Debatte verstrickt: Der von Monika Grütters vorgeschlagene Neuentwurf des Kulturgutschutzgesetzes schien den Handel mit den Werken lebender Künstler/innen, wie auch die Rechte von Sammlern/Sammlerinnen generell massiv einschränken zu wollen. Und so fand sich auf der einen Seite der Debatte ein empörter Aufschrei für den freien Markt, während die andere Seite mit konservativen Bestrebungen konterte, „national wertvolles“ Kulturgut zu sichern.
In einem Nationalstaat, der seine Grenzen in Zeiten ihrer Auflösungserscheinungen scharf im Blick hat, ist auch dieses Gesetz einmal mehr ein Kommentar zur Frage: Was (oder wer) darf rein und raus?
EXPORT
Im Sommer 2015 ließ sich in den deutschen Medien ein höchst seltenes Spektakel beobachten: Kunststars, -händler und -versteigerer stimmten wie aus einem Mund öffentlichen Protest an. Baselitz drohte damit, seine Leihgaben aus deutschen Museen abzuziehen, Richter murrte, und Galeristen mahnten, dass das Ende des deutschen Kunstmarkts nun nah sei. Ursache der Aufregung war ein von der Kulturstaatsministerin Monika Grütters verfasster Referentenentwurf zum Kulturgutschutzgesetz, der verfrüht an die Öffentlichkeit gelangt war. Obwohl die Neufassung angeblich sowohl dem internationalen als auch dem europäischen Recht entsprach, stärkte sie im Gegenzug die Eigenstaatlichkeit Deutschlands, das sich durch das neue Kulturgutschutzgesetz vom Rest der Europäischen Union absonderte: Die Ausfuhr in alle Länder, egal ob Großbritannien oder Katar, soll ein und denselben Bedingungen unterliegen. Und natürlich ist ein Kulturgut, das sich in London, der Drehscheibe des globalen Kunsthandels, wiederfindet, schon mit einem Fuß in den Vereinigten Staaten oder in den Golfstaaten angelangt.
Mit dem Kulturgutschutzgesetz beharrt Deutschland kulturpolitisch auf seiner Nationalstaatlichkeit. Seit der Romantik und seit dem Aufkommen des kulturellen Nationalismus im 19. Jahrhundert wird Kultur in erster Linie als „Nationalkultur“ definiert. Der Nationalstaat gilt als Wächter einer Kultur, die ein als homogen gedachtes Volk schöpft und sein Eigen nennt. In Berlin spiegeln Inschriften auf zwei wilhelminischen Bauten diese Haltung: Den Reichstag ziert der Spruch „Dem deutschen Volke“, und auf der Alten Nationalgalerie prangt die Widmung „Der deutschen Kunst“, gefolgt vom Jahr der deutschen Reichsgründung 1871. Kunst ist eine Intensivierung der Kultur: Kultur schließt die gewöhnliche Volkskultur ein, während Kunst sich innerhalb schärfer gezogener institutioneller Grenzen bewegt und als Eliteversion der Kultur gelten kann. Die Art der betroffenen Kulturgüter stand in den Diskussionen um das Kulturgutschutzgesetz allerdings nie infrage; alles drehte sich um hochklassige Kunstwerke, speziell von der Hand „deutscher Meister“.
In der Bundesrepublik der Nachkriegszeit wurden Kunst und Kultur bewusst „provinzialisiert“, um den Nationalismus und Imperialismus des Dritten Reichs zu entschärfen. Gemäß der „Kulturhoheit der Länder“ liegt die Verantwortung für die Kulturpolitik bei den Bundesländern, die ihre Maßnahmen auf Bundesebene in der Kultusminis-terkonferenz koordinieren. Nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 hielt man diese Lösung für nicht mehr ausreichend, weshalb die Regierung Schröder 1998 die Position eines Kulturstaatsministers schuf, freilich ohne eigenes Ministerium. Auch unter der neuen Regelung obliegt die Entscheidung darüber, ob national wertvolles Kulturgut ausgeführt werden darf oder nicht, aber bei den Kultusministerien der Länder, die mithilfe von Sachverständigen regionale Länderverzeichnisse national wertvollen Kulturgutes erfassen.
Der Neuentwurf sieht Bestimmungen vor, die zugleich strenger und weitreichender sind als die bisher geltenden. Sie erstrecken sich nun auch auf bestimmte Werke lebender Künstler/innen, die, so die ursprüngliche Fassung, älter als 50 Jahre sind und einen Schätzwert von 150.000 Euro übersteigen – daher die Kritik von Baselitz und von mehreren Wortführern des Kunstmarkts, die düstere Zukunftsvisionen malten, in denen der Bund Kunstwerke beschlagnahmt oder zumindest permanent in Deutschland festhält. Damit dieser Fall tatsächlich eintritt, müsste ein Werk allerdings erst von einem der 16 zuständigen Sachverständigenausschüsse als „national wertvoll“ eingestuft werden. Grütters bot nach dem Sturm, den sie ausgelöst hatte, eine Kompromisslösung an, die Künstlern und Künstlerinnen das Recht zusprach, die Aufnahme eines ihrer Werke in ein Kulturgutverzeichnis zu verweigern. Darüber hinaus wurde die Alters- und Wertgrenze relevanter Objekte auf 70 Jahre und 300.000 Euro hochgesetzt.
Durch den Fokus auf Wertfragen und die öffentlichen Statements berühmter Künstler wie Baselitz oder Richter inspiriert, ließ sich die Presse in der Berichterstattung über die Kulturgutschutzgesetz-Debatte schnell zu den reduktivsten Vorstellungen von „hoher“ und natürlich besonders von „deutscher“ Kunst hinreißen. Man darf dabei nicht übersehen, dass das Etikett „national wertvoll“ gemäß der Definition der Kultusministerkonferenz keineswegs einzig deutschen Künstlern und Künstlerinnen vorbehalten ist. Auch ein Warhol kann von nationaler Bedeutung sein. Der enge Fokus der Medien auf „deutsche Kunst“ lässt vielmehr vermuten, dass der Diskurs von Anfang an durch konservative Ideologeme in eine vorbestimmte Richtung gelenkt wurde. Kunst als die höchste Leistung einer Kultur ist für Konservative genau insofern relevant, als sie einer spezifischen Nationalkultur entspringt – die ihrerseits als Sonderfall eines breiteren Kultursubstrats wie etwa des Christentums oder des Abendlandes verstanden wird. Auch hier werden Kontinuitäten vom Kulturnationalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum aufgeklärten bundesrepublikanischen Kulturschutz sichtbar.
Ansatzpunkte zur Kritik dieser Tendenz bietet schon das polymorphe Wesen der Kulturidee: Obwohl Kultur zumeist mit Nationalkultur und Volkskultur gleichgesetzt wird, gibt es auch eine Alltagskultur, eine Streitkultur, eine Esskultur und so weiter. Bei den Protesten gegen den Bau der Hochmoselbrücke argumentierten Kritiker/innen aller Schattierungen, das Megaprojekt würde eine der ältesten Kulturlandschaften Deutschlands zerstören, in der seit 2000 Jahren Weinbau betrieben wird. (Und die Rede von der Weinbaukultur ruft in Erinnerung, dass der Kultur-begriff „etymologisch im Landbau verwurzelt ist“. ) Trotz allem wurde das Vorhaben vom Landtag Rheinland-Pfalz abgesegnet, und das von Politikern/Politikerinnen, die vermutlich doch davor zurückschrecken würden, die Alte Nationalgalerie der Abrissbirne zu überlassen. Hat da irgendwer „Kulturgutschutz“ gesagt?
Unterdessen wandert die Kunst – eine gewisse Art von Kunst – mehr und mehr vom Nationalstaat in Ausnahme- und -Sonderzonen ab, die ebenderselbe Staat einrichtet, um globale Kapitalströme anzuziehen. Der natürliche Lebensraum der Kunst als Anlage ist immer weniger das Museum, ja nicht einmal das Heim oder Privatmuseum des Sammlers, sondern das Zollfreilager – der Freihafen, in dem keine oder nur geringe Steuern fällig werden. Dort können Kunstwerke gelagert, gekauft und wiederverkauft werden, ohne das Licht der Welt (oder des White Cube) jemals zu erblicken. Selbstredend ist diese Duty-Free-Art, wie Hito Steyerl anmerkt, nicht wirklich abgabenfrei, denn sie hat schließlich ein erstklassiges Investment abzugeben, wie sie anderswo ein glorreiches Bild deutscher Kultur abzugeben hat. Diese beiden Wertsysteme sind komplementär und konspirativ: Sie leben vom Anspruch auf höchste künstlerische Qualität und vom Geltungsbedürfnis der Nationalkultur, die sich beide reibungslos in Finanzwerte übersetzen und rückübersetzen lassen.
IMPORT
Das Kulturgutschutzgesetz regelt indessen neben der Ausfuhr auch die Einfuhr. Da es bei den Einfuhrbeschränkungen vor allem darum geht, den Handel mit gestohlenen oder geplünderten Kulturgütern zu unterbinden (z. B. aus Syrien oder aus dem Irak), erwies sich dieser Aspekt als weitaus weniger kontrovers. Mit seiner gut gemeinten Absicht, der Plünderung des kulturellen Erbes anderer Länder Einhalt zu gebieten, räumt der Entwurf zweierlei ein: erstens, wie durchlässig die Landesgrenzen geworden sind, und zweitens, dass sich außerhalb Europas nicht nur Ströme von Menschen, sondern auch von Artefakten in Bewegung gesetzt haben – nicht zuletzt als Spätfolge der imperialistischen Projekte europäischer Mächte. Allerdings spricht aus dem Bedürfnis, deutsches Kulturgut zu schützen, auch das Eingeständnis, dass es in unserer globalisierten Welt ausländische Big Player gibt, die gegenüber einheimischen Museen wie neue Kolonialherren erscheinen.
Als Sonderzone, in der gewisse Rechte und Gesetze aufgehoben sind, bildet der Freihafen ein Pendant zum Flüchtlingslager – oder zu den vom bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer geforderten „Transitzonen“, wo Asylanträge bearbeitet und „Wirtschaftsflüchtlinge“ möglichst schnell in ihr Heimatland rückbeordert werden sollen. Der Aufruhr um das Kulturgutschutzgesetz im Sommer 2015 war ein bloßes Geplänkel im Vergleich zu den mit zunehmender Feindseligkeit geführten Debatten um die Flüchtlingsfrage, die um dieselbe Zeit an Fahrt gewannen. In Dresden und anderen Städten hatte Pegida bereits Gleichgesinnte zu Protesten gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ mobilisiert. In ihren Angriffen auf die multikulturelle Gesellschaft wurde und wird die Organisation nicht müde zu betonen, dass der Islam mit „unserer Kultur“ unvereinbar sei (was im weiteren Sinne auch gilt für alle, die wie Ausländer aussehen, und sowieso für jene, die sich des Verbrechens des Gender-Mainstreamings schuldig machen).
Das Kulturgutschutzgesetz im Kontext mit dem Flüchtlingsthema und der Ausbreitung des fremdenfeindlichen Nationalismus zu sehen, ist kein abstraktes Gedankenspiel: Beide gehören demselben Problemkreis an. Auch Pegida betreibt eine Form von Kulturschutz. Fraglos ließe sich Letzterer als proto-(oder gar nicht einmal so proto-)faschistische Kehrseite der Idee des Kulturgutschutzes in der BRD nach 1945 deuten. Während Kulturschutz heute einmal mehr Fragen nach Territorium und Staatlichkeit in den Vordergrund stellt, wurden diese beiden technologisch jedoch transformiert. Um an der Social-Media-Filterblase des Islamischen Staates teilzuhaben, muss man sich keineswegs auf dessen Territorium befinden; besagte Filterblase mag so manchen erst dazu anregen, sich auf Pilgerfahrt nach Syrien zu begeben.
In der auseinanderfallenden EU erlebt das Vertrauen in die real existierenden Nationalstaaten keine Renaissance. Als Alternative zu den viel geschmähten Mainstream-Medien („Lügenpresse“) basteln sich Bewegungen wie Pegida ihre eigene Filterblase. Die „Querfront“ aus Akteuren wie dem Kopp Verlag, den Montagswachen, dem Compact-Magazin und der populistischen One-Man-Show Ken Jebsen operiert innerhalb einer selbst gemachten, paranoiden, zu Verschwörungstheorien tendierenden Gegenöffentlichkeit. Als Teil dieses Gemischs sprechen die sogenannten Reichsbürger dem deutschen Staat jegliche Legitimität ab – und zwar nicht, weil sie etwa den Nationalstaat prinzipiell ablehnen, sondern weil das Deutsche Reich ihrer Ansicht nach nie offiziell aufgelöst wurde und das aktuelle deutsche Staatsgebilde somit de facto nichts als eine amerikanische Besatzungszone wäre. Die schrillen Töne, die im Streit um das Kulturgutschutzgesetz angeschlagen wurden, erinnerten mitunter an diese als weit entfernt gedachte diskursive Gegenwelt: Der Staat wurde in die Rolle des diktatorischen Ausbeuters gezeichnet, dessen Maßnahmen jeder Legitimität entbehren und der sich anmaßt, die Heiligkeit des trauten Sammlerheims zu verletzen, um dessen private Besitzungen zu durchschnüffeln.
GEMEINGUT
In der Post-Snowden-Ära herrscht kein Mangel an Gründen zur Besorgnis – und zur Verwirrung: Während ein Segment der Linken den Staat als Bollwerk gegen den „Markt“ wiederentdeckt, wirkt die pauschale Ablehnung der Staatsidee durch Anarchismus und Autonome verlockender denn je. Nichtsdestotrotz ist der simple Akt, ein Kunstwerk auf eine Liste zu setzen, noch längst keine Enteignung. Man kann sich natürlich Gedanken über die Wirksamkeit und Effizienz machen, ein solches Verzeichnis national wertvollen Kulturguts zu erstellen – oder richtiger: 16 Verzeichnisse, eins pro Bundesland. Haben wir es im Grunde mit Symbolpolitik zu tun? Wenn man verhindern möchte, dass Kunstwerke oder andere Artefakte in weit entfernten Safes oder Steueroasen verschwinden, wird uns eine politische Kultur, die Sachverständigenausschüsse ultimative Top-Ten-Listen aufstellen lässt, kaum weiterhelfen. Was wir wirklich brauchen, ist eine lange und lebhafte Diskussion über die relevanten Ideen, Kriterien und Prioritäten, an der sich auch die Institutionen beteiligen, anstatt die ganze Sache der Presse und ihren Feuilletonisten zu überlassen.
Wenn man bedenkt, dass der eigentliche Stein des Anstoßes die im Neuentwurf artikulierte Absicht war, das Gesetz auf „lebende Künstler“ auszudehnen, wäre eine Auseinandersetzung mit dem Problem einer als selbstverständlich erscheinenden Nationalkultur womöglich sinnvoller, als allen Fokus auf einige wenige Meisterwerke namhafter deutscher Künstler/innen zu legen. Dies würde dem Wandel ästhetischer Praxis Rechnung tragen und eine solidere Entscheidungsbasis schaffen. Was ist z. B. mit den internationalen Kunstnetzwerken, die seit den 1960er Jahren existieren? Warum redet niemand von der Rolle, die ein Nam June Paik oder die ganze Fluxus-Bewegung in Deutschland spielte? Warum wird kaum öffentlich diskutiert, dass ein europäisches Archiv nach dem anderen Richtung Kalifornien (Getty Center) oder Connecticut (Yale) abwandert? Was ist mit projektbasierten Praktiken, mit interdisziplinären Kollektiven, mit Gegen- und Subkulturen, deren Beiträge nicht unbedingt dem entsprechen, was sich die Bürokratie unter „nationaler Bedeutung“ vorstellt? Welche Rolle könnten Strategien der Rekonstruktion, des Remakes und der Reinszenierung in der Vermittlung von Kunst und Kultur spielen? Welche Lebensformen, welche Denk- und Empfindungsweisen sind es wert, geschützt und verteidigt zu werden? Was wären hier die besten Strategien?
Übersetzung: Bernhard Geyer
Dieser Artikel erschien im englischen Original als „National Customs. Sven Lütticken on Germany’s Kulturgutschutzgesetz“ am 19. Januar 2016 online auf https://www.textezurkunst.de/articles/national-customs/ und liegt hier in einer leicht überarbeiteten Fassung vor.
Sven Lütticken unterrichtet Kunstgeschichte an der Vrije Universiteit Amsterdam.Er veröffentlichte die Bücher "Secret Publicity" (2006), "Idols of the Market" (2009) und "History in Motion" (2013). In diesem Jahr erscheinen "Cultural Revolution" (Sternberg Press) und ein von ihm herausgegebener Reader über Kunst und Autonomie (Afterall).
Anmerkungen