Die leere Mitte. Stefan Heidenreich über "Die ersten Tage von Berlin" von Ulrich Gutmair
Kronenstraße 3, Berlin, Umgebungsplan 1989 und 2010.
Auf den Fall der Mauer war niemand vorbereitet. Im Zentrum von Berlin entstand eine temporäre Zone ungeplanter Leere. Bis die Maschinerie politischer und ökonomischer Entscheider sich der Mitte bemächtigten konnten, vergingen etliche Jahre. Die komplizierte Abwicklung der Rückgabeforderungen und die damit verbundene Ungewissheit über Eigentumsverhältnisse verlängerten diesen Übergangsphase noch.
Schneller als die institutionellen Entscheider konnten die Akteure der alternativen und unabhängigen kulturellen Szene ihre Orte und Räume besetzen. Ulrich Gutmairs Buch „Die ersten Tage von Berlin“ schildert die Szenerie dieser Jahre zwischen 1989 und 1996. Er erzählt oft im Romanstil und es gelingt ihm, die Ereignisse und die Situation der Zeit gegenwärtig zu machen. Wie das Buch auf unbeteiligte Leser wirkt, kann ich selbst kaum beurteilen. Denn ich war in dieser Zeit genau in derselben Szene unterwegs, habe gut die Hälfte der im Buch genannten Personen, Orte und Ereignisse selbst erlebt, kann deshalb vieles aus eigener Anschauung bestätigen, aber in seiner Wirkung auf Außenstehende eben nicht einschätzen.
Es gibt allerdings einige Details, die ich in seiner Schilderung vermisse. Und es gibt eine größere offene Frage im Hintergrund. Beides, die Details und die Frage, hängen miteinander zusammen.
Anton Waldt - Friseur, 1995. Kronenstraße Berlin, Foto: Christian Brox.
Beginnen wir beim größeren Problem. Was immer in diesen erstaunlichen Jahren geschehen ist, wenig ist davon übrig geblieben. Gutmair beschreibt selbst, wie Mitte der 90er ein Ort, ein Treffpunkt nach dem anderen geschlossen, abgerissen oder zugebaut wurde, und wie sich die Freunde und Aktivisten, die sich für ein knappes Jahrzehnt dort eingefunden haben, wieder in alle Welt verstreuen oder sich im normalen Leben verlieren.
Es gibt zwei Arten von Ereignissen, reversible und irreversible, also solche, die sich rückgängig machen lassen und deshalb sich oft wiederholen können, und andere, die unwiederbringlich sind. Manchmal kommt es vor, dass beide miteinander verwechselt werden. Dass sich also etwas Unwiederbringliches als wiederholbar herausstellt. Oder umgekehrt, dass wir etwas wiederholen wollen, es sich als unwiederbringlich erweist. Etwa wie in Kierkegaards „Wiederholung“, als der Philosoph zu seiner großen Enttäuschung eine Reise nach Berlin, von der er so gute Erinnerung hatte, nicht wiederholen konnte.
Der Fall der Mauer fällt mit Sicherheit in die Kategorie des Irreversiblen, des Nicht-Wiederholbaren. Einmalige Ereignisse dieser Art sind von der Aura des historischen Moments umgeben, und wer immer sich in ihrem Umfeld aufhält, hat den Eindruck, selbst Teil der Geschichte zu sein. Aber dieser Eindruck übergeht, dass Geschichte immer hergestellt wird, dass sich also erst in der Zukunft herausstellt, was historisch wirkmächtig wird, oder um es mit Quentin Meillassoux zu sagen, dass die Vergangenheit unvorhersehbar ist.
KW vor Renovierung, 1997. KW Institute for Contemporary Art, Foto: Uwe Walter.
Das Buch betrachtet die Berliner Szene nach der Wende aus einer sehr engen Perspektive. Es bleibt ganz auf ein sehr bestimmtes Milieu von Hausbesetzern, Club-Betreibern und freien Kulturaktivisten fixiert. Es erzählt so gut wie nichts über die Szene der Investoren und Bauleute, die die Stadt unter sich aufgeteilt und nicht immer sonderlich glücklich zu- und aufgebaut haben. Auch die politische Klasse und ihre Auseinandersetzung um die Rückverlegung der Hauptstadt bleiben außen vor. So wird gerade nicht geschildert, „warum Berlin ist, was es heute ist“, wie ein Verlagsspruch auf der Rückseite verspricht. Denn genau so unvorbereitet, wie die Szene in die Leere der wiedervereinten Stadt vorstieß, wurde sie daraus auch wieder entfernt. An den Entscheidungen, die die Zukunft der Stadt prägten, hatte dort so gut wie niemand einen Anteil. Und wo es Figuren gab, die über die Szene hinaus einen Einfluss ausübten, weicht Gutmair ihnen aus. Er berichtet uns zwar länglich vom Klaus, dem Bücherverkäufer am Oranienburger Tor. Aber nichts von Klaus Biesenbach, der in dieser Zeit die Kunstwerke mit aufbaute, die Berlin Biennale gründete und sich dann höherer Aufgaben halber nach New York verzog. Intellektuelle Aufbrüche im weiteren Umfeld, wie etwa die Gründung von Nettime, der beginnende digitale Aktivismus oder die Neuausrichtung der Kulturwissenschaften an der Humboldt Universität werden nur am Rande gestreift, wenn überhaupt. In der Engführung auf die lokale Szene und die privaten Geschichten von allerlei mehr oder weniger bemerkenswerten Gestalten und Sonderlingen bekommt der Bericht eine kleinstädtische Atmosphäre. Als hätten wir es mit einem Ort zu tun, der durch ein plötzliches Ereignis für ein paar Jahre in die Weltgeschichte eintritt, um dann wieder im Nirgendwo zu verschwinden. Das historische Ereignis schrumpft auf die Alltäglichkeit einer Szene, die sich zwar in einer außergewöhnlichen Situation breit macht, aber wenig damit anzufangen weiß und vielleicht auch wenig damit anfangen will. Denn das hätte verlangt, sich an dem Spiel der Entscheider und Planer zu beteiligen, selbst Institutionen von Dauer aufzubauen und die temporären Zonen zu verstetigen, wie man heute so schön neudeutsch sagt. So aber musste die Szene weichen, und was bleibt ist die Erinnerung an einige außergewöhnliche Jahre.
Ulrich Gutmair, Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende, Stuttgart: Klett-Cotta, 2013.