Ausstellen, wo andere Urlaub machen, Andrea Legiehn über Merlin Carpenter in Nizza
Merlin Carpenter, Poster zu „Exposition d'été: Au Café“, 2012
Wer im Monat August zufällig eine Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer gemacht hat und sich beim Landgang in Nizza, vielleicht in der Hotellobby vom „artsy“ Windsor, von einem Plakat zu Merlin Carpenters Präsentation „Exposition d’été: Au Café“ aufgefordert sah, den kurzen Fußweg zu den Ausstellungsorten in der Rue Alberti zurückzulegen, entlang der Promenade des Anglais mit ihrer morbiden Mischung aus bürgerlichem Freizeitverhalten und postbürgerlichem Körperkult à la Venice Beach, der war wahrscheinlich einer der wenigen absichtlichen Besucher dieses sommerlichen Kunstereignisses. Dort angekommen, fand er das Ausstellungsplakat am Fenster der Bar de la Victoire wieder, das nun deren temporäre Doppelfunktion anzeigte: Ausstellungsort eines Enfant terrible der zeitgenössischen Avantgardekultur und typisch französische Café-Bar, ein Treffpunkt der Einheimischen und Saisonarbeiter nach Arbeitsende vom urlaubsabhängigen Tourismusgeschäft. Das Poster zeigte das fotografische Porträt des jungen Merlin Carpenter (aufgenommen in den 1990ern), auf einem Tisch vor ihm steht ein halbgefülltes Glas. Beim Eintritt in das Café korrespondierte dieses Motiv nicht nur mit der gewohnheitsmäßigen Barbetriebsamkeit, sondern auch mit dem Sujet der acht Malereien Carpenters, die über den Tischen und Köpfen an den funktional gekachelten Wänden hingen. Sie orientierten sich an Edgar Degas’ Gemälde "L’Absinthe" („Dans le Café“, 92 x 68 cm, Öl auf Leinwand) aus dem Jahr 1876, das damals prompt einen Skandal im viktorianischen England ausgelöst hat. Dargestellt ist eine Szene im Café de la Nouvelle-Athènes, wo sich die Impressionisten im Pariser Quartier Montmartre zusammenfanden: Im Bildzentrum eine modisch gekleidete Frau (Kurtisane), die mit „leerem“ Blick auf ein (mit Absinth) gefülltes Glas blickt, ein Mann (Maler) sitzt neben ihr, leicht angeschnitten vom rechten Bildrand.
Merlin Carpenter, „Exposition d'été: Au Café“, Bar de la Victoire, Ausstellungsansicht, Nizza 2012.
Carpenters Bilder adaptieren das Original auf sehr unterschiedliche Weisen, wobei die rechtslastige Bildkomposition von Degas auch bei hohem Abstraktionsgrad immer nachvollziehbar bleibt. Die somit erzielte Serienhaftigkeit, wiewohl die Verbundenheit der Malereien unterstreichend, scheinen aber weniger den Geltungsanspruch als wertvolle Einzelbilder zu unterlaufen – Bad Painting, hier in Form dilettantisch spontaneistischer Malerei, tut das ja quasi naturgemäß –, als die Wirkungspotenz der Varianten in ihrer malerischen Bandbreite zu steigern. Dies gelang aber wiederum nur in den hier stattfindenden ortsspezifischen Überlagerungen, in denen sich eine eskapistische Kapitalismusmüdigkeit mit dem Wunsch frenetischer Kreativität rauschhaft im Feierabendbier oder Absinth zu verbinden vermochte. Je nach Bewusstseinszustand konnte dann das bildfüllende, comichafte Gesicht mit dem angedeuteten, modischen Hut tatsächlich dich meinen und momenthafte Reallife-Allianzen provozieren. Dieser als Möglichkeit aufscheinende Schulterschluss von Kunst/Prekariat und Arbeiterklasse kippte aber spätestens wieder zurück in die Welt des Faktischen, als man den zweiten Ausstellungsort betrat, einem benachbarten Immobilienbüro, in dem weitere acht Malereien der Serie zu sehen waren. Hier, an den weißen Wänden des Bureau Capan-Bordes, die das Intérieur aus gediegenem Korbmöbel, schwerem Bürotisch und intimem Konferenzensemble einrahmen, wurde in signifikanter Weise der gewohnheitsmäßigen Kunstpräsentation und -verwertung Rechnung getragen.
Merlin Carpenter, „Exposition d'été: Au Café“, Bar de la Victoire, Ausstellungsansicht, Nizza 2012.
Das Immobilienbüro dient auch als fingierte Briefkastenadresse von PROVENCE, einer dem Hobby gewidmeten Kunstzeitschrift, die auf acht Ausgaben begrenzt ist. Tatsächlich hat der im Winter 2011 von PROVENCE herausgegebene Stadtführer „Nice. The California of Europe“ Merlin Carpenter dazu veranlasst, seine Bilder nicht nur in Nizza auszustellen, sondern sich auch in die frankophile Metareferenzlandschaft des jungen Künstler/Kuratoren/Editoren-Teams einzubetten. Die Malereien entstanden in den Sommern 2010 und 2011 bei Aufenthalten Carpenters in Antibes, einem heruntergekommenen Tourismusort zwischen Nizza und Cannes. Als mediterranes Pendant zur Pariser Café-Kultur von Montmartre und Montparnasse entwickelte sich Antibes in den 1920er Jahren zum Sommerresort eines illustren, transatlantischen Bohèmekreises, womit ebenfalls die Rekreationssindustrie an der südfranzösischen Küste vollends etabliert wurde. Carpenters fiktionalisierte Verbrüderung mit Degas, die sich auf manchen der Bilder durch die Initialen „MC“ und der Signierpersiflage Degas’ sogar buchstäblich ausdrückt, wurde in diesem Setting zum doppelten Verrat: So verband er in Antibes nicht nur den Anti-Impressionisten von Montmartre mit dem Plein-Air-Charakter einer südfranzösischen Künstlergemeinschaft und machte ihn damit posthum zum aktiven Komplizen dieser Gentrifizierungsdynamiken, sondern er korrumpierte auch dessen sozialkritische Intention durch seine spontaneistischen „L’Absinthe“-Adaptionen, die Carpenter als „too bad“ für Bad Painting bezeichnet hat. Erst durch die reale Präsentation im Café und im Immobilienbüro nebenan während der offiziellen Sommerpause des Kunstbetriebs wurde dieser doppelte Verrat in eine neue Schizo-Verbundenheit aufgelöst: Durch die Reanimation der Bad Paintings („L’Absinthe“, Acryl auf Leinen, 92 x 68 cm, Antibes 2010) im Café inszenierte sich Carpenter-Degas als Maler der Arbeiterklasse; im Immobilienbüro wurden seine Malereien („L’Absinthe“, Acryl auf Leinen, 92 x 68 cm, Antibes 2011) jedoch gleich wieder in die Warenlogik des Kapitalismus zurückgeholt, die Carpenter-Kurtisane offenbarte sich also als Komplizin der Ausbeutungsverhältnisse und vice versa.
Merlin Carpenter, „Exposition d'été: Au Café“, Bureau Capan-Bordes, Ausstellungsansicht, Nizza 2012.
Die Frivolität der Erholungsindustrie wurde 1930 im poetisch-dokumentarischen Film „À propos de Nice“ von Jean Vigo dargestellt. In humorvoller Weise kontrastierte der Regisseur die Sozialverhältnisse, die eine industrielle Erholungskultur erst ermöglichen und notwendig machen: "In this film, by showing certain basic aspects of a city, a way of life is put on trial... the last gasps of a society so lost in its escapism that it sickens you and makes you sympathetic to a revolutionary solution." Doch seine klar formulierte Kritik wird in der Ambiguität des Filmmaterials nicht eingelöst. Ein bisschen zu lange hält Vigo die Kamera unter die Röcke einiger Tänzerinnen. Merlin Carpenters Sommerausstellung als Sommerurlaub hingegen liest sich eher wie das Reenactment einer Science Fiction aus dem frühen 20. Jahrhundert. Durch die Fiktionalität der temporalen und räumlichen Verknüpfungen und Überlagerungen macht er das Verhältnis von Kunst (Criticality) und Produktion (Complicity) sichtbar, ohne wirkliche Reallife-Effekte zu produzieren. Gentrifiziert ist die französische Riviera ja schon seit über hundert Jahren. Mit dem Hipstermove des jungen Carpenter aus den 1990ern macht der Merlin Carpenter des 21. Jahrhunderts auch ein wenig PROVENCE-Urlaub von seinen anderen Café-Ausstellungen (New York – London - Berlin) und ihrer sado-masochistischen Streitkultur. Ein bisschen Guilty Pleasure, aber ohne gravierenden Kater.
Merlin Carpenter, „Exposition d'été: Au Café“, Bureau Capan-Bordes, Ausstellungsansicht, Nizza 2012.
Der Reallife-Effekt der Ausstellung wurde nur am Eröffnungsabend inszeniert. So waren die Besucher der Bar wahrscheinlich eher nicht zufällige Passanten oder Kreuzfahrer, sondern zumeist die Leute aus dem Kunstbetrieb, die extra nach Nizza geflogen waren, um Kunstbetrachtung und Eröffnungsritual mit ein paar Tagen „Nice la belle“ an der Côte d’Azur zu verbinden, so wie ich. Dieser analoge Kurzschluss von hyperaktivem Global Networking der Kunstwelt des 21. Jahrhunderts und exklusiver Jetset-Tradition aus dem 20. Jahrhundert gleicht dem Pariser Kaufhaus Printemps – für jeden zugänglich, für die meisten zu teuer. Virtualtime-Anschluss an das materialisierte MC-Sommergerücht von links nach rechts und zurück: Contemporaryartdaily.com, Provence.st und eben hier.
Merlin Carpenter, „Exposition d'été: Au Café“, Bar de la Victoire und Bureau Capan-Bordes, Nizza, 4. August bis 7. September 2012.