Christine Regus über Keren Cytter im HAU, Berlin
Keren Cytter, „The true story of John Webber and his endless struggle with the table of content", 2010, Hebbel am Ufer, Berlin, Copyright: Hebbel am Ufer, Berlin
Keren Cytter hat vor kurzem im Berliner Theater Hebbel am Ufer mit „The true story of John Webber and his endless struggle with the table of content" das erste abendfüllende Tanzstück ihrer Kompanie D.I.E Now (Dance International Europe Now) gezeigt. Vorformen waren Ende 2009 bereits in der Turbinenhalle der Tate Modern und bei der PERFORMA 9 in New York zu sehen.
David Rosenhan, Professor für Psychologie an der Stanford University, hat Ende der sechziger Jahre ein aufschlussreiches Experiment durchgeführt: Er selbst und sieben seiner Studenten, allesamt ohne psychische Vorerkrankung, sprachen in Psychiatrien vor und gaben an, Stimmen zu hören. Die weitere Versuchsanordnung sah vor, ansonsten nicht zu lügen. Das Ergebnis: Keiner der Scheinpatienten durfte wieder gehen. Bei den meisten wurde Schizophrenie diagnostiziert und es wurde zu einem langwierigen Unterfangen, sie wieder aus den Anstalten heraus zu bekommen. Nach der Offenlegung des Experiments behauptete eine andere Klinik, bei ihr hätten solche Fehldiagnosen nicht vorkommen können. Rosenhan schlug vor, in den nächsten drei Monaten Testpersonen vorbei zu schicken, dann würde man ja sehen, wie verlässlich die Einschätzungen der Ärzte seien. Die Psychiater identifizierten in der Folgezeit 19 Scheinpatienten. Rosenhan hatte keinen einzigen geschickt.
Diese hübsche Anekdote, eine von vielen, die Keren Cytter in ihr Stück „The true story of John Webber and his endless struggle with the table of content" einflicht, hat, auf der Bühne erzählt, eine besondere Pointe: Dass der Blick auf den Anderen transformierende Kraft hat, dass man sein Gegenüber durch die Art der Betrachtung überhöhen, degradieren, ihm Identitäten zuschreiben kann, gilt schließlich nicht nur für die medizinische Welt. Ebenso kann es, und davon erzählt uns ein Archivfilm, den Cytter in der Aufführung auf eine von drei großen Leinwänden projiziert, die anthropologische Feldforschung sein, die aus einem Jäger im Urwald einen Wilden macht. Aber auch der Liebeswahnsinn vermag es, den anderen zu verwandeln, in ein reines Objekt rasenden Begehrens beispielsweise - das knallt uns Cytter in einer fulminanten Tanzsequenz, auf die später noch einmal zurückzukommen sein wird, auf die Bühne. Wieso diese Geschichten auf einer Theaterbühne eine spezielle Bedeutung haben? Theater ist ein Ort der machtvollen Blicke. Daher ist auch in der ästhetischen Philosophie traditionell umstritten, wie das Theater zu bewerten sei: Jean-Jacques Rousseau fordert schon in seinem berühmten „Brief an d'Alembert", das Theater sei als Paradigma des asymmetrischen Sehens und Versteckens zu bekämpfen: „Stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, daß ein jeder sich im andern erkennt und liebt, daß alle besser miteinander verbunden sind!"1 Und, ein kleines Wunder, genau das schafft Keren Cytter an diesem Abend.
Keren Cytter, „The true story of John Webber and his endless struggle with the table of content", 2010, Hebbel am Ufer, Berlin, Copyright: Hebbel am Ufer, Berlin
Cytter schickt der Hauptaufführung eine Interpretation der legendären Dan-Graham-Performance „Performer/Audience/Mirror" (1975, Bilbao) vorweg: Der Performer (Fabian Stumm) auf der Probebühne des HAU 3 beschreibt freundlich und korrekt die Situation: Dass er auf der Bühne steht und seine Arme seitlich herabhängen. Dass er im Publikum eine ältere Frau mit grauen Haaren sieht. Dass diese beginnt zu erröten und nun der Rest des Publikums zu ihr schaut, dass aber auch einige Zuschauer in den Spiegel blicken, der hinter ihm an die Bühnenrückwand montiert ist. Dass nun das gesamte Publikum in den Spiegel schaut. Dass er nun versucht, sich selbst dabei im Spiegel zu beobachten, wie er einem Zuschauer in die Augen schaut und feststellt, dass es nicht geht. Die Zuschauer folgen seinen Worten aufmerksam: Wir schauen auf den Performer und achten auf seine herabhängenden Arme. Wir gucken zu der älteren Frau mit den grauen Haaren. Wir sehen, wie sie errötet. Wir schauen in den Spiegel. Und versuchen uns selbst dabei zu beobachten, wie wir unserem Nachbarn in die Augen blicken. Im gleichen Moment merken wir: Wir sind in die Falle getappt - wir sehen uns selbst auf der Bühne, im Spiegel und es ist unklar, wer eigentlich wem bei was zuguckt. Es handelt sich hier um eine kurze, aber wirkungsvolle Lektion über die Natur der Live-Performance, die immer ein Austauschverhältnis ist. Die Grundkonstellation ist ja, dass jemand zuschaut wie jemand anderes etwas vorführt. Betrachter und Performer gehören also gleichermaßen dazu. Traditionellerweise haben die Zuschauer im Theater einen Beobachterposten in sicherer Distanz und wähnen sich unbeteiligt am theatralen Ereignis. Hier aber werden sie Teil der Interaktion und erleben, wie die eigene Subjekthaftigkeit und die Objekthaftigkeit des Performers ins Wanken geraten können. Dadurch, dass der Mann auf der Bühne den Blick entgegnet, erfährt es, dass es konstitutiver Bestandteil des Geschehens ist. Die Performance ist auch eine Lektion darüber, wie beschränkt und gleichzeitig wunderbar offen die menschliche Wahrnehmung ist. Wir können uns zwar nicht selbst dabei zugucken, wie wir jemand anderem in die Augen schauen, aber dafür Strand und Meer auf der vollkommen leeren Bühne sehen, salzweißes Haar, ein langbeiniges Mädchen in den Wellen, obwohl es nur ein von der Schauspielerin Susanne Sachsse eindringlich gesprochener Text ist, der diese Bilder evoziert.
Das Hauptstück dann ist gar nicht mal so unkonventionelles Tanztheater. Es besteht, und dadurch ist es formal Cytters Filmen und Videoinstallationen verwandt, aus einer Montage pop- und hochkultureller Zitate: Diverser Bilder und Texte, die teils banal, teils hochpathetisch, mal ganz zart und dann superderb daher kommen, sich oft überlagern und einen stark narrativen Charakter haben, wenn sie auch niemals einer linearen Logik folgen. Bekannt ist, dass Cytter sich gern von Meistern des Genres inspirieren lässt, in dem sie arbeitet, und was für ihre Filme Alfred Hitchcock oder John Cassavetes sind, sind hier klassisches Ballett, Pina Bausch, Michael Jackson und Lambada, ein Paartanz, der in den 80ern eine Saison lang en vogue war. Exzessives Zitieren, in diesem Fall vorwiegend in Form plumper, amateurhafter Nachahmung höchst virtuoser Vorbilder, ist natürlich keine sonderlich originelle künstlerische Strategie. Dass Cytter aber ein unterhaltsamer und überzeugender Abend gelingt, hat zwei Gründe: Sie hat erstes ein untrügliches Gespür für Rhythmus, der für Rasanz und Witz in der Inszenierung sorgt: Perfekte Tempi strukturieren die Performance der drei Tänzer, die eingestreuten Filme, die Übertitel, das gesprochene Wort und die elektronische Musik, die Cytter auf ihrem Computer mit Garage Band selbst komponiert und eingespielt hat. Zweitens packt sie ihr Thema, nämlich die Frage nach der Macht des Blickes und was sie mit Identitätskonstruktionen zu tun hat, überaus intelligent an: Indem sie die Zuschauer mit den eigenen Wahrnehmungsmustern konfrontiert, und zwar nicht abstrakt-thesenhaft, sondern im unmittelbaren Vollzug, zeigt sie, dass das Performative nicht bloß die Kunst oder das Theater prägt, sondern auch das reale Leben.
Keren Cytter, „The true story of John Webber and his endless struggle with the table of content", 2010, Hebbel am Ufer, Berlin, Copyright: Hebbel am Ufer, Berlin
Der Plot des Hauptsstücks scheint, das überrascht diejenigen nicht weiter, die Cytters Filme kennen, zunächst reichlich abstrus: Der politische Aktivist John Webber wacht eines Morgens auf und ist eine Frau. Am Vortag hatte er sich in einem Café in die Grafikdesignerin Linda Schultz verliebt, die dort als Bedienung gejobbt hatte. Linda erlebt eine ebensolche Transformation: Auch sie hatte sich heftig verliebt - in ihn - und erwacht am nächsten Tag als Mann. Die Auswirkungen dieses Ereignisses haben einen Dominoeffekt auf Gesellschaft, Sexualpolitik und Identität und münden letztlich in eine Revolution - behauptet zumindest das Programmheft. Und so unwahrscheinlich es klingt: Die Geschichte geht auf. Denn in der Tat sind Identitäten, auch geschlechtliche, ja nichts Gegebenes. Es lässt sich kaum hinter die Erkenntnisse etwa Butlers und Bourdieus zurückgehen, die ja in sehr unterschiedlicher Weise plausibel gemacht haben, dass Identitäten so wie andere soziale Konstruktionen durch performative Akte erzeugt werden. Und da diese sich in den Körper einschreiben, kann man den Körper als zentrales Schlachtfeld von Identitätspolitik bezeichnen. In diesem Kontext ist Performativität als das Gegenteil von Expressivität zu verstehen. Und so ist es auch bei Cytter: Wenn der Performer auf der Bühne steht und sagt „Ich bin John Webber und eine Frau" ist das ein Akt der Benennung, der einerseits ein Grundgesetz des Theaters ist. Andererseits macht der Performer nichts, um auszusehen wie eine Frau und als Zuschauer ist man verwirrt: Ist man doch gewohnt, das im Theater nicht bloß etwas behauptet, sondern auch nachgeahmt wird. Die Tänzer stellen bei Cytter die realen geschlechtlichen Markierungen ihres Körpers aus und überspielen sie gleichzeitig. Die Figuren als einheitliche Gestalt werden fragmentiert, offen für Zuschreibungen aber auch für Selbstbenennung, durch ihren materiellen Körper determiniert und doch zum Spiel mit ihm fähig.
Und so ist eine der Schlüsselszenen die, in die beiden einander verfallen - Linda (Dafna Maimon), die man sich allein deshalb schon verlieben muss, weil sie sich ganz selbstverständlich zu Pathos und Hysterie bekennt, und der hypernervöse, trockene John (Andrew Kerton), der schockartig die Verwandlungskraft der Leidenschaft erfahren muss. Er bestellt „was richtig Starkes, das Härteste bitte - einen grünen Tee!" Sie bringt ihm das Getränk, er nimmt einen Schluck, schleudert das Glas weg, glitzernd entleert sich der Inhalt, die ganze Bühne ist plötzlich in rotes Licht getaucht. Es folgt eine melodramatische Tanzszene, die formal an frühen Ausdruckstanz erinnert und aus den Vollen des herkömmlichen körpersprachlichen Vokabulars der erotischen Liebe schöpft. Man fühlt sich an Tristans und Isoldes Liebestrank erinnert, ein Bataillon von Liebesfilmen zieht am inneren Auge vorüber. Es wird klar: Selbst die Liebe ist codiert. Man versteht aber auch, dass es das eben gibt, diesen Moment, in dem die Liebe sich Bahn bricht, oder der Wahnsinn, was ja erwiesenermaßen in vielerlei Hinsicht dasselbe ist, und nichts mehr so sein kann wie zuvor. Und dass, wenn nichts natürlich ist, auch die Revolution möglich wird.
Keren Cytter, „The true story of John Webber and his endless struggle with the table of content", 2010, Hebbel am Ufer, Berlin, Copyright: Hebbel am Ufer, Berlin
Viel wurde, auch im Kontext von Cytters filmischen Arbeiten, über die massenmediale Prägung unseres intimen Umgangs miteinander gesagt. Wenn Cytter sich nun vom Film zur Bühne begibt, könnte man meinen, dass sie sich dem Authentischen, Direkten und Wahren zuwendet. Schon immer gab es einen starken Drall der Performancekunst bildender Künstler hin zur Feier des Orgiastischen und vermeintlich Unvermittelten. Insbesondere seit den 1970er Jahren ist die Vorstellung populär, der „Nicht-Werk-Charakter" von Life-Performances stelle per se eine Subversion der Mechanismen des Kunstmarktes dar. Peggy Phelan hat in „Unmarked: The Politics of Performance" (1993) ihren seither viel zitierten Performanz-Begriff aus der Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit entwickelt. Phelan leitet aus dem ephemeren Charakter eine gewisse Widerständigkeit gegen Identitätspolitik qua visueller Repräsentation und Reproduktionslogik ab. Tino Sehgal etwa spielt mit dieser Tradition.
Keren Cytter jedoch vollzieht die umgekehrte Bewegung. Ihre Repräsentationskritik ist keine, die in der Gegenwart lebendiger Körper so etwas wie das „Echte" vermutet. Sie zeigt die Tänzer-Körper zwar in ihrer konkreten Materialität und lässt, besonders durch die Dominanz des Rhythmischen in der Aufführung, ihre Energie und Präsenz zu ihrem Recht kommen. Das Entscheidende aber ist, dass selbst in Momenten des Exzesses die Körper auf der Bühne nicht auf Subjektivität und Expressivität reduziert werden. Sie erscheinen nicht natürlich und frei, sondern immer konzeptualisiert, und so wird die distanzierte Reflexion auf den Körper als existenzielle Gegebenheit möglich. Und zwar auf eine, die den Blick des anderen schon immer in sich trägt. Indem die Aufführung das Moment der Identitätskonstruktion fokussiert, verschiebt sie das Verhältnis zwischen Dargestelltem und Zuschauern, Objekt und Subjekt. Begriffe lösen sich auf, Frau und Mann, gesund und krank, Wissenschaft und Wahnsinn, Faktizität und Ausgedachtes. Am Ende, nachdem Cytter uns mit viel Lust und Witz einander zur Schau gestellt und dem Publikum gezeigt hat, dass die Grenze zu den Darstellern eine fiktive ist, fragen wir uns, ob es nun das war, was Rousseau seinerzeit gefordert hat. Er war allerdings nicht gerade für seinen Humor bekannt. Und klagte über die Verformung des natürlichen Menschen durch die sittenlose Kultur. Also hat er sich wahrscheinlich doch etwas anderes gewünscht.
Anmerkung
1 Rousseau, Jean-Jacques: Schriften. Hrsg. von Henning Ritter. Frankfurta.M. 1988, S. 462f..