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Diedrich Diederichsen

Harun Farocki (1944–2014)

95-Diederichsen-1 Harun Farocki (1944-2014). Foto: Christian Werner

Die Katastrophenmeldung von Harun Farockis Tod erreichte mich in Portugal an einem Urlaubstag. Der Nachruf muss schnell geschrieben werden, mir fehlen natürlich die zahllosen Unterlagen, aus denen ich gerne zitieren würde: Zeitschriften, Bücher, Pamphlete, Seminarankündigungen – es gäbe so einiges, das ich gerne herbeischaffen würde, um auch nur annähernd einen Eindruck des Verlustes zu geben, den wir alle erlitten haben. Und Harun Farocki hat nicht nur für sich allein gearbeitet, vor allem in den letzten 20, 25 Jahren hat er derart viele Projekte, Personen, Veranstaltungen und Institutionen miteinander verbunden, zusammengehalten und beseelt, dass der Schaden, ihn verloren zu haben, nicht nur für uns als trauernde Personen, sondern auch für das Milieu, das diese Zeitschrift (aber auch andere wie Cargo, Revolver, Trafic etc.) ausmacht, für unser aller tägliches Weitermachen nicht hoch genug zu veranschlagen ist. Was für ein Dreck!

In den späten 1970er Jahren entdeckte ich die Zeitschrift Filmkritik. Diese Texte waren das erste wirksame Gegengift gegen meinen jugendlichen Wunsch, poetische Texte zu schreiben. Frieda Grafes Artikel waren das eine Vorbild, aber sie schrieb schon nicht mehr in den aktuellen Ausgaben. Harun Farockis Schreiben aus den aktuellen Nummern der 70er Jahre waren das andere, wirksamere, neuere Modell. Ich hatte so etwas noch nie gelesen. Die Person, die Stimme, der Autor, das Unverwechselbare entstanden nicht aus dem Selbstbezug, sondern gerade aus der höchsten Sachlichkeit. Ein Drittes, jenseits von neuer Subjektivität und akademischem Schreiben, weder Handke noch Marcuse. Rigorose, aber fließende Anwendung kritischer Kategorien auf Gegenstände ganz unterschiedlicher Dignität: Fernsehanstaltenbürokratie, Bahnhofskinos, dicht beschriebene Filme, neueste Hollywoodproduktion, spätlinke Subkultur. Das ergab sich und ließ sich nur austarieren mit einem ganz besonderen Humor. Dieser Humor trat aber nicht als etwas auf, über das der Autor stolz verfügt wie eine Eigenschaft, einen Besitz, sondern als etwas, das entstehen musste, weil er ein Denken in angemessener Weise auf die Welt losließ, das sich eben gerade nicht als individuelles ausgab, sondern als Einsatz von im Prinzip allen verfügbaren „richtigen Ideen der Menschheit“ – im Denken, in der Verfügbarkeit von Ideen hatte die Revolution gewissermaßen schon stattgefunden: als eine coole, gerechte, unpompöse Selbstverständlichkeit. Schrieb man aus diesem Wissen heraus über die nicht revolutionären Dinge der Welt, hätte das auch angeberisch, autoritär oder anmaßend, vor allem aber unmaterialistisch wirken können: Woher hatte man diese Ideen? Bei Harun wurde die notwendige Kluft zwischen dem eigenen Niveau und dem der Verhältnisse durch einen paradoxerweise warmen, freundlichen Sarkasmus aufrechterhalten und dennoch die Kommunikation gerettet. Seine langen erzählerischen Kolumnen („Neues vom Wixer“) oder kurzen Notizen waren unglaublich komisch. Ich konnte damals einige Sätze auswendig, etwa aus der Kolumne, in der er den neu aufkommenden Stadtzeitschriften vorschlug, doch gleich ein Feuilleton im Telefonbuch zu veröffentlichen.

Anfang der 80er sah ich ihn das erste Mal persönlich. Zusammen mit zwei Kolleginnen hatte ich für Sounds Jean-Marie Straub und Danièle Huillet interviewt, die damals in Hamburg „Klassenverhältnisse“ drehten, nach Kafkas „Amerika“, u. a. mit Mario Adorf und Libgart Schwarz. Harun spielte mit nicht ganz ungefährlich wirkender Bosheit den Delamarche, einen der Peiniger des armen Karl Roßmann, eine Rolle, die in der TV-Verfilmung von 1969 Klaus Löwitsch hatte. Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen, aber möglicherweise hat er das auch sehr amüsant gefunden: dieselbe Figur wie Löwitsch verkörpert zu haben. Es entstand auch ein Film über die Dreharbeiten („Jean-Marie Straub und Danièle Huillet bei der Arbeit an einem Film“, 1983). Zwei Tage nach unserem Interview saß er mit einer größeren Entourage von am Film Beteiligten im Café Schöne Aussichten, und wir setzten uns dazu. Er unterhielt den ganzen Tisch in einer Weise, die das Gegenteil von den Entourage-Beeindruckungsnummern darstellte, die man damals von jungen Künstlerstammtischen kannte; nicht laut trompetend als Sänger, sondern eher als stets anfeuernder, inspirierender Bass mit allerdings scharfem Spott.

Seine Filme kannte ich damals noch nicht. Die Distributionsverhältnisse eines vorwiegend auf Festivals und in dritten Programmen stattfindenden nicht kommerziellen Kinoschaffens mögen gegenüber der heutigen Dominanz der bildenden Kunst und ihrer Ökonomie viele Vorteile gehabt haben, an die man sich gern nostalgisch erinnert, aber sie hatten auch einen großen Nachteil: Jemand wie Harun Farocki konnte die immense und verdiente Wirkung erst erzielen, als er mit dem Kunstbetrieb zusammenarbeitete. Während der 80er sah ich manches im Fernsehen und war vor allem immer wieder auch von Nebenwerken wie „Schlagworte-Schlagbilder – ein Gespräch mit Vilém Flusser“ (1986) eingenommen, in denen ich die grundsätzliche Geste, die mir aus den Filmkritiktexten bekannte lakonische Direktheit wiedererkannte. Dann war es aber vor allem entscheidend, nach und nach die großen Arbeiten dieses Verteidigers kleiner Formen, wie „Zwischen zwei Kriegen“, „Wie man sieht“ und „Etwas wird sichtbar“, kennengelernt zu haben. Meine Generation konnte sich so erst nach und nach klarmachen, wie viel weiter die ästhetische Ideologiekritik der avanciertesten sogenannten 68er tatsächlich gekommen war, als uns deren Karikaturen in der schulischen, universitären oder subkulturellen Lebenswelt hatten glauben machen können. In der Zeit meiner Rezeption dieser Filme, weitgehend nach 89, hatte sich der kritische Fokus bei Farocki allerdings schon wieder verschoben: von einer systematischen, auch auf die eigene Rolle ausgedehnten Kritik der kapitalistischen Zivilisation mit dem Ziel ihrer revolutionären Beseitigung zu einer ernüchterten Gegenwartsdiagnose. „Videogramme einer Revolution“ über die rumänische Erhebung von 1989 leistet neben der Rekonstruktion der Rolle von Fernsehbildern bei diesem Umsturz auch die Anerkenntnis des Umstands, dass diese Revolution von 1989 eine ist, die sich gegen die kommunistische Tradition richtete.

Dennoch laufen die großen Gegenwartsdiagnosen – von „Leben BRD“ bis „Die Schöpfer der Einkaufswelten“ – keineswegs auf nur noch zynische Bilanzierungen hinaus. Sie orientieren sich an den zu Recht entwickelten Spezialisierungen eines kritischen Bewegtbildprojekts: Konsum und Konsumkultur, dann Arbeit, Lernen und deren Umstellung von Industriearbeit auf Infokapitalismus und schließlich Krieg zwischen industriellem Genozid und Kybernetisierung. Die Phasen, durch die Farockis Projekt lief, sind nicht durch undialektische Fluchtversuche von aufgegebenen Positionen gekennzeichnet, sondern verlaufen aufeinander bezogen und eher akkumulativ: Schon als Teenager schreibt er an so irren Orten wie dem Spandauer Volksblatt Texte zu Semiotik und Sprachwissenschaft, danach und noch vor der Filmkritik in einer Kolumne in der Zeitschrift Film. Seit den 1970er Jahren übernimmt zwar in allen Produktionen eine politisch-ökonomische Kritik die Leitfunktion, eine Kritik, die aber so sprachtheoretisch und zeichenwissenschaftlich gesättigt ist, dass sie Schuss und Gegenschuss als „wichtigsten Ausdruck im Wertgesetz Film“ identifizieren kann. In den späten 80er, frühen 90er Jahren kommt eine profunde Rezeption der Medienwissenschaften auch so unmarxistischer Autoren wie Friedrich Kittler dazu, ohne aber einfach an die Stelle des vorher Gewussten zu treten. Kennengelernt haben wir uns um 2000, nachdem ich nach Berlin gezogen war. Wir haben danach oft und vor den verschiedensten Öffentlichkeiten diskutiert: in privaten Wohnungen, Galerien, öffentlichen Workshops, auf Sommerfesten, in Kunstakademien etc. In Wien, wo wir beide an der Akademie der bildenden Künste arbeiteten, aber auch in Sligo am äußersten westlichen Ende Europas. Über seine Arbeit oder über ausgewählte Filme – von Brian de Palma über Mike Figgis bis zu natürlich Jean-Luc Godard. Dies war immer eine totale Freude, der ganz seltene Fall eines öffentlichen Redens, das nichts mit Arbeit zu tun hatte. Da war sie wieder – die Geste, die Haltung, die mich schon als Heranwachsenden in der Filmkritik so beeindruckt hatte: Im informierten, total der Sache gewidmeten Gespräch hat die Revolution schon stattgefunden, und die Produktion ist keine Arbeit mehr.

Die Kunstöffentlichkeit, in der diese Gespräche stattgefunden haben und in der wir zusammen gearbeitet haben, war eine andere als die der Filmproduktion in den 1970er und 80er Jahren, aber auch der verschiedenen Filmwelten der Gegenwart, mit denen Harun Farocki ja nicht nur als Filmemacher, sondern auch in anderen Funktionen, etwa als Produzent oder Drehbuchautor (in der Zusammenarbeit mit Christian Petzold z. B.), weiterhin verbunden war. Man konnte mit Harun in einer Galerie zu tun bekommen (und er stand ja auch neueren Positionen aus der Welt der bildenden Kunst wie etwa denen von Alice Creischer, Constanze Ruhm, Andreas Siekmann, Hito Steyerl nahe), er kuratierte aber auch große Ausstellungen wie „Kino wie noch nie“ (zusammen mit Antje Ehmann), in denen sehr unterschiedliche Facetten seiner Praxis zusammenkamen: dieser unmerkliche Übergang vom Argumentativen in ein zeigend Didaktisches, das sich in seiner Lakonie relativierte und stärkte. Die Übergänge und Zwischenformate, mit denen er in den letzten beiden Jahrzehnten arbeitete, diese Installationen, Konstellationen und Vorführungen, wurden von ihm nicht als große Schritte und Veränderungen inszeniert. Sie geschahen mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er von Kolumnen ins Kinomachen zu wechseln verstand: weder als der Multibegabungsact sogenannter Renaissancemenschen noch als das Tausendsassatum heutiger Bildende-Kunst-Unternehmer noch über die Verdunkelung der tatsächlichen Unterschiede, sondern über die Integrität der Intellektualität.

Genauigkeit und Sachlichkeit bezogen sich eben nicht nur auf den Gegenstand, sondern immer auch auf die technisch-medialen und politischen Spezifika seiner Bearbeitung: Bilder, Worte, Räume. Digitale und andere neue Medien waren kein Anlass für Kulturpessimismus. Zuletzt, in der Reihe „Parallels I–IV“, beschäftigte er sich mit der Entwicklung von Bildern in Computerspielen am Beispiel der Darstellung von Bäumen und endete dort mit dem Ausblick, dass die digitalen Bilder die fotografischen vielleicht in einer ähnlichen Weise von Repräsentationspflichten entlasten würden wie die fotografischen einst die Malerei entlastet hätten. Einer von zahllosen Anknüpfungspunkten, an denen man so gerne weitergeredet hätte.

Diedrich Diederichsen