Vorwort
Die vorliegende Ausgabe von Texte zur Kunst versammelt unter dem programmatischen Titel „13 Thesen zur Gegenwartskunst“ Beiträge von Kunsthistoriker/innen, Kritiker/innen, Künstler/innen und Kurator/ innen, die vor dem Hintergrund ihrer aktuellen Projekte die für sie entscheidenden Parameter, Phänomene und Tendenzen im Feld der zeitgenössischen Kunst mit normativem Anspruch zu umreißen versuchen. Seit den 90er Jahren ist verstärkt von „Gegenwartskunst“ die Rede; Auktionshäuser richten ganze Abteilungen für sie ein, kunsthistorische Lehrstühle und kuratorische Studiengänge werden ebenfalls auf sie ausgerichtet. Der Rekurs auf die „Gegenwartskunst“ setzt einen Anspruch auf Zeitgenossenschaft bzw. eine unmittelbare Relevanz künstlerischer Produktion für die Gegenwart voraus. Er impliziert mithin ein diagnostisches Potenzial, das immer schon über den engeren Bereich des Ästhetischen hinausweisen soll.
Trotz einiger Skepsis gegenüber der Tragfähigkeit dieses Begriffs in der Beschreibung künstlerischer Praktiken und ihrer institutionellen und ökonomischen Voraussetzungen geht es in diesem Heft aber nicht um die Frage, wie „Gegenwartskunst“ zu historisieren oder definieren ist, wohl aber darum, Stellung zu beziehen: Mit der Krise der Finanzmärkte und deren allmählicher Auswirkung auf die sogenannte Realwirtschaft bzw. dem vorläufigen Ende des „Booms“ der Gegenwartskunst verbindet sich allerorten die ominöse Hoffnung, dass es nun „endlich“ wieder um „Inhalte“ geht. Was aber sind diese viel beschworenen Inhalte, die jeder Krise standhalten können sollen? Was steht „nach der Krise“ für unterschiedliche Akteure des Kunstfeldes auf dem Spiel? Wie verändert sich ihre Perspektive? Oder kann es doch beim business as usual bleiben? Es ist mithin die derzeitige Situation, in der mehr oder minder begründete Existenzängste sich mit diffusen Hoffnungen auf eine Rückkehr „fester Werte“ vermengen, die uns dazu veranlasst hat, einen Befund der gegenwärtigen Lage zu erheben, der zwangsläufig partikulär und unabgeschlossen, aber gerade darin aussagekräftig ist.
In eben diesem Sinne ist diese Ausgabe auch ein redaktionelles Experiment, bestand die einzige Vorgabe an die Autor/innen doch darin, dass prägnante Thesen aufgestellt, ausgeführt und begründet werden sollten. Wir wollten bewusst keine inhaltlichen oder methodischen Vorgaben machen, aber dazu auffordern und ermuntern, den eigenen Einsatz und das eigene kritische Interesse an der Gegenwartskunst unter den sich derzeit mit noch weitgehend unabsehbaren Konsequenzen wandelnden Bedingungen zu reflektieren und zu benennen. Das Spektrum der Antworten auf unsere Anfrage ist entsprechend weit, wenngleich sich das Verhältnis zwischen Kunst und Ökonomie, die aktuelle Relevanz von Institutionskritik und die generelle Frage nach dem kritischen Potenzial künstlerischer Arbeiten als gemeinsame Nenner der hier versammelten Beiträge herauskristallisiert haben. Es reicht von Überlegungen zum Erbe der Institutionskritik unter den Bedingungen einer zunehmend digitalen Öffentlichkeit; zur möglichen Revision des kunstkritischen Konsenses aus der Warte der „Dingpolitik“; zur anhaltenden Relevanz moderner Topoi der Betrachteradressierung in zeitgenössischer Fotografie und Videokunst; zum Potenzial der Kunst, trotz allem an emanzipatorischen Idealen festzuhalten; zur kritischen Arbeit am Format der Ausstellung als sine qua non politischer Ansprüche im Kunstfeld; zur Tendenz zur Affektproduktion statt Reflexion in der Gegenwartskunst bis hin zu der Frage nach der Materialität für die ästhetische Erfahrung und dem Nachdenken über die philosophische Nivellierung politischer Handlungsfähigkeit der Kunst; über die Tücken allegorischer Strategien der Kunst und - kritik; die anhaltenden institutionellen Widerstände gegen eine die aktuelle Lage engagiert historisierende Praxis und über die Unmöglichkeit überhaupt, durch eine These an Übersicht zu gewinnen. Im Spiegel dieser Diversität von Zugängen, Rück- und Ausblicken ist mit dieser Ausgabe nicht zuletzt das Anliegen verbunden, Kunstkritik, die allzu oft in der bloßen Beschreibung verharrt, als eine historisch und theoretisch fundierte Form des argumentierenden Urteilens ebenso zu stärken wie die Reflexion auf die derzeitigen Perspektiven künstlerischer, theoretischer und kuratorischer Praktiken.
An dieser Stelle möchten wir unsere Leser/innen auf die erweiterte Website von Texte zur Kunst hinweisen. Neben Informationen zu allen Ausgaben und Editionen – die nunmehr in einem Online Store bestellt werden können – finden Sie auf ihr auch die neuen Blogs von Isabelle Graw („Reiche Römer“) und Gunnar Reski („Kofferleben“), die in Kommentaren, Aphorismen und Aperçus regelmäßig über Ausstellungen, Eröffnungen, Lektüren und Reiseimpressionen berichten, sowie die Kolumne „StudioLine“ von Stefanie Kleefeld, für die sie Ateliers Berliner Künstler/innen besucht, und schließlich die Rubrik „Gesehen und Bewertet“, die Besprechungen aktueller Ausstellungen, Bücher und Veranstaltungen unterschiedlicher Autoren versammelt. Mehr als nur ein guter Grund, immer wieder die Seite www.textezurkunst.de zu besuchen!