Als die Institutionskomik noch geholfen hat Über künstlerische Psychotaktiken
„Der Bokonor sagt: Diese Samenhülse bewirkt, dass der Dieb, wenn er Bananen stiehlt, krank wird und sich selbst anzeigt. Das glaubt der Besitzer der Bananenstaude. Und der Dieb glaubt es auch. Also wirkt die Samenhülse – der Dieb stiehlt nicht. Der Besitzer glaubt zu recht.“ Hubert Fichte1
Im Kunsthandel und bei der Rezeption von Arbeiten von André Cadere2 kam es nicht selten zu Verwechslungen seines Werks mit den Objekten, die er hinterlassen hat. In einem Text in dem 1996 erschienenen Katalog „Unordnung herstellen“ klärt Bernard Marcelis diesen Irrtum auf: „Nicht das Reisen und die ständige Bewegung […] waren sein Ziel, sondern es ging ihm darum, seine Arbeit zu zeigen.“3 Bei Cadere ist es tatsächlich so, dass die berühmten „Barres de Bois Rondes“, die in Ausstellungsräumen platzierten bemalten Rundholzstäbe, nur die halbe Geschichte erzählen, wenn man sie sich nicht genau ansieht und nicht liest, was er dazu geschrieben hat. In demselben Text, in dem vom „Zeigen“ die Rede ist, wird auch gesagt, dass nur wer „nichts besitzt, nichts zu verlieren hat“, Dinge tut, wie sie André Cadere oder Tony Shafrazi getan haben – etwa ungebeten in Galerien gehen, um den Leuten die eigene Kunst hinzuhalten oder im Museum Bilder von Picasso mit politischen Parolen besprühen. Caderes Arbeit muss man sich insgesamt genau ansehen, um herauszufinden, warum er eine Legende ist und weshalb viele Leute seine Stäbe kennen, ohne genau sagen zu können, wozu sie da waren. Wenn man über Cadere spricht, genügt es schon, einfach vom Zeigen auszugehen – Beispiele dafür gibt es en masse, bei Dalí, Beuys, Immendorff, Kippenberger und Oehlen. Immendorff hat „den Eisbären mal reingehalten“ zu einer Türe, oder es wird die Ateliertür aufgerissen und ein Prolet – ein Selbstporträt – zeigt dem dekadenten Konzeptkünstler die Massen draußen, denen er sich jetzt anschließen muss. Albert Oehlen hat sich in einer bestimmten Phase mit Riesenmündern, Revolvern, weiblichen nackten Figuren und anderen Motiven aus der Mottenkiste des „Heftchens“, des Agitprop und des Faschismus fest auf die Wirkung des Demonstrativen und auf die Sekundenwirkung von Plakaten verlassen. Bei Cadere zeigt sich schon in der Bauart der „Barres“, dass darin jenseits von Psychologie und Autobiografie alles enthalten ist, was die Legende ausmacht: das Ablenken, das Marginale, der Scherz, das Beleidigte, Ohnmacht und Macht in einem. Es ist stets dieselbe Bewegung: Einschluss, Ausschluss, Selbstausschluss (Selbstopfer beinahe), Dokumentation, süße Rache. Wenn Cadere sagte, die Stäbe seien „endlose Malerei“, war das etwas theatralisch; dagegen wenn Brancusi „endlose Säule“ sagte, war es das nicht. Aber Cadere hatte trotzdem Recht, denn mathematische Reihen wie Permutationen und Primzahlen sind ja wirklich unbegrenzt. Überhaupt von Malerei zu reden, weil es lackiertes Holz war, ist so ostentativ bescheiden wie zu sagen, man habe etwas Harmloses getan, wenn man in Wahrheit etwas Schlimmes getan hat, auf das man insgeheim sehr stolz ist und in diesem Stolz sehr unbescheiden. Cadere kombinierte die farblichen Abschnitte seiner Stäbe nach Regeln der Permutation, baute aber Fehler ein, die „geheime Botschaften“ enthielten. Da Cadere erklärtermaßen nie zweimal dieselbe Farbe aufeinander folgen ließ, sehen wir den Ort des Fehlers nicht auf Anhieb. Auch wenn sein Werk oft auf die „Barres de Bois Rondes“ reduziert wird, so bietet uns doch deren Struktur zusammen mit dem Kommentar, den uns der Künstler an die Hand gibt, einen Einblick in die performative Abteilung seines Werks: ein endloser Wechsel von Verletzen und Aufhebung der Verletzung, von Angriff und Rückzug. Bei André Cadere würde ich von einer Verwechslung von etwas eigentlich Spaßigem mit etwas, bei dem es um Verletzung geht, sprechen. Wenn man den ganzen Ernst weglässt, der von Caderes überlieferten Handlungen und Texten ausgeht – denn das begegnet uns ja zuerst, insofern wir nicht dabei waren – und die Fotos, Protokolle und Zettel sieht, dann kann das ja nur etwas Leichtsinniges gewesen sein: Heute ist Broodthaers-Ausstellung, da geh ich hin und stell’ meinen Stab in die Ecke. Da halte ich mal meinen Eisbären rein. Da kacke ich mal vor die Garderobe. Für das, was der bürgerliche Kanon an Rollenverletzungen und Übertretungen vorsieht, um die Sympathiebereitschaft von Wissenden und Machtträgern aufzustacheln, ist die Aktionsform Caderes fast zu harmlos. Was die Leute daran nicht mochten, ist die Wiederholung und die „administrative Ästhetik“ (Buchloh), in der Cadere alles festhielt. So richtige Konzeptkunst, da sie „nicht danach strebte, die bloße Faktizität dieser Gegebenheiten zu überwinden“4, ist fast zwangsläufig tautologisch. Cadere hat diese schönen Objekte geschaffen, aber er brauchte den Apparat, den er gebissen hat, und er hat ihn selbst immer von neuem erzeugt, um sein Werk herzustellen. Als Konzeptkunst hing Caderes Tun alleine von der Präexistenz der Institution ab, die er kritisieren wollte. Deswegen ist Cadere so wichtig, weil er überdeutlich an dieser tollen Grenze zur Heteronomie steht. Wenn, wie Sandor Ferenczi sagt, der Furz ein Privileg der Erwachsenen ist, dann ist die Kacke das Privileg des Kindes. Dalí hat an einer Grenze gearbeitet, an der Scherz und Institution einander noch gegenüberstanden. Nachdem er mit seiner Familie gebrochen hatte, wurde er 1926 aus der Madrider Kunstakademie relegiert und anschließend von den Surrealisten ausgeschlossen. Und alles nur wegen Scheiße. Später dann ist er auf Franco zugegangen. Gewisse sprachliche oder künstlerische Aktionen wie Malen oder In-einen-Raum-Eindringen, die in der Konsequenz die Form von Skandal, Aggression und Faschismus annehmen können, sind doch „strukturell gesehen“ zunächst mal Scherze gewesen. Der historische Kern der Konzeptkunst ist der Scherz. Dalí hat sich mit seinem drängenden Geltungsanspruch selbst eingeschlossen, selbst institutionalisiert. Scherz und Institution und Selbstinstitution sind die wichtigen Punkte, denn es bleibt im Kunstmachen nicht beim Scherz. Aus den Scherzen wird vielmehr ein System, wie bei Fluxus. „Nach einer Woche in der Surrealistengruppe war mir bereits klar geworden, dass Gala recht gehabt hat. Meine skatologischen Elemente wurden in einem gewissen Rahmen geduldet. Ein bisschen Kacke durfte ich draufsetzen. Aber nur Kacke, das gab’s nicht.“ Dalí hat seine Grille institutionalisiert und sich durch die zweifache Usurpation, erstens von der Autorität des psychoanalytischen Vokabulars und zweitens von privilegierender Triebstörung (vom Furz zur Kacke), immunisiert. Aber wenn Scherz und Institution zusammenkommen, entsteht meist nur Pathos. Dalí hat wohl nach der Urszene, dem Analtabu (Peter Gorsen), in der Surrealistengruppe den Spieß umgedreht und sich seine eigene Klassik erfunden als groß angelegte Antirhetorik gegen die Kritik und die Psychoanalyse gleichzeitig: beides Institutionen, die über Kunst befinden. Das Verharmlosen und auch das Umdeuten und Forcieren von Harmlosem ins Katastrophale ist immer schon eine Konversationstechnik gewesen. Die Konzeptkunst wäre zu bestimmten Teilen leicht als eine Fortsetzung der Tradition ziviler männlicher Selbstgefährdung zu schreiben (Bas Jan Ader, Tony Shafrazi, Christopher D’Arcangelo, Chris Burden u. v. a. m.). Germaine Guex sagt, dass der Abandoniker einem pensée magique anhängt und seine Umwelt ständig auf die Probe stellt.5 Solange wir noch im bürgerlichen Zeitalter lebten, konnten wir den feinen Unterschied zwischen einem Duell, in dem es um die Ehre ging, und einem Attentat, in dem es um die Vernichtung ging, noch machen. Aber das ist ja nun passé. Hamburg, Köln, Düsseldorf, Ehrenfeld. Was das Wort Psycho-Politik überhaupt bedeuten könnte, liegt in dem Umbruch um 1980, also in dem Bruch, zu dem Jörg Immendorff das Gelenk ist und Albert Oehlen und Martin Kippenberger der Arm. Beuys die Schulter. Oehlen und Kippenberger machten sich in ihrer Kunst in den frühen Zeiten von den notorischen Schuldgefühlen gegenüber den alten linken Argumenten frei, aber dieser Verlust an Gewissen, die befreiende Selbstverabsolutierung, machte sie auch immun. Ihre Kunst in den 1980er Jahren war in diesem Sinn ein psycho-politischer move, der Verachtung wieder ins Spiel brachte. Verachtung, das ultimative Mittel bürgerlicher Verkehrsformen. Die psycho-politische Kunst von Oehlen und Kippenberger hat – durch die „reaktionäre Rückkehr der Malerei“ (Buchloh) – aus dem alten Zwangsregime einer „Psychopolitik“ ganz anderer Art herausgeführt, bei der das Psychische nämlich als Argument verwendet wurde, um aus Zwängen generell auszubrechen. Was ein paar Jahre später Jutta Koether in ihrer Arbeit machte, war eine Art Wiederzurückholen, und in diesem Zug setzte sich auch die post-psychopolitische Kunst durch, die zwar konzeptuell angelegt war, aber noch nicht in Konzepthaftigkeit und Didaktik schwelgte. Das kam dann später.6 Die 1980er Jahre bieten eine solide Basis für die Zäsur mit der Nachkriegsgeschichte. Im Interview von Martin Prinzhorn mit Albert Oehlen kommen Kunststudenten als die „Beuyssklaven“ vor. Immendorff war das nicht. Wenn man sich seine Selbstbildnisse beim Malen mit dem Maleraffen auf dem Rücken und den Text „Der Malerfeind im Maler ist sein bester Freund“ ansieht oder das Bild „Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?“, kann einem auffallen, dass er konsequent seine Dilemmata aufs Bild gebracht hat und darin sozusagen mehr psycho als politisch war. Aber zuvor hatte Immendorff in einer cleveren Zuspitzung des 1963er „Kapitalistischen Realismus“ von Richter und Lueg damit angefangen, die Ikonografie und Rhetorik des Protests als Material zu verwenden und damit freizugeben. Seine Identifikation mit Kommunisten-Kitsch erzeugte Distanzierung. Der Nach-Lidl- und Vor-Café-Deutschland-Immendorff, der meterweise Motive der Mensa-Wandzeichnungen und Wandmalereien abmalte und darauf mit dem Pinsel seine Slogans eingetragen hat, hat etwas an Beuys verstanden, der eigentlich ein großer Humorist war, von dem dieser selbst gar nichts wusste: das öffentliche Selbstgespräch. Was auf Immendorffs Bildern an Texten so steht, das fragt und rät er sich selbst.7 Auch Kippenbergers Bild „Rückkehr der toten Mutter mit neuen Problemen“ aus dem Jahr 1984 ist autobiografisch und enthält ein Dilemma. Die Figur der Mutter kommt herein und zeigt uns, was sie mitgebracht hat: Steine, die nicht sozialistisch auf Courbet oder auf Straßenkampf hindeuten, sondern psychologisch-surrealistisch auf harte tote Materie, und die Mutter selbst ist nicht tot, sondern rot – im Gesicht. Damit schwankt die Darstellung des Dilemmas selbst zwischen zwei entgegengesetzten Modellen des Bildes und seines Titels. Die Mutter ist tot, aber steht vital vor uns, sie ist tot, aber rot, was sowohl der Losung „Lieber tot als rot“ nahe kommt wie auch einem Versprecher oder einem Reim, der sich zwischen Bildtitel und falscher Lokalfarbe im Bild ergibt. Politisch würde ich dabei die radikale Beanspruchung meines Humors nennen. Das Bild kritisiert Tautologie, Analogie, Metapherndenken und Trauer. Psychopolitisches Sehen: Das „Zeigen“ bei Cadere, das „Hineinhalten“ bei Immendorff, das „Erzählen“ bei Kippenberger und dagegen „Ernstmachen mit Kunst“, also das Psychische und Introspektive bei Koether und das Idiosynkratische bei Carline von Heyl oder Cosima von Bonin. Ob noch Scherz und „Wunde“ oder schon Selbstinstitutionalisierung ist gar nicht die Frage, weil das nur Stadien der psychopolitischen Aktivität sind. Die vielen Selbstporträts von Albert Oehlen als Hitler mit „verschissener Unterhose“ und die abstrakten Bilder ähneln in ihrer Frontalität dem Demonstrationsgestus von Cadere. Dagegen das Aufführen, Erzählen: Kippenberger zeigt nicht sich, sondern er führt auf. Auch in seinen Selbstporträts hat das Theaterstück immer schon angefangen, während wir bei Albert Oehlen noch (oder schon wieder) in der Garderobe sind und sehen, wie er aussehen wird oder ausgesehen hat. Es ist ein eher obszönes Werk bei Oehlen, Cadere und Immendorff im Sinne eines off scene. Zeigen ist Vereinfachen, und Cadere hat den Prozess des Sich-Etablierens in der Kunst vereinfacht, indem er die Abkürzung nahm. Es sind die symbolischen Akte bei Cadere, die die mobilen „Barres“ erst zu Werken machen. Ambulant und an den Körper des Künstlers gebunden. Wenn sie an der Wand lehnen, fehlt ihnen etwas, wie der Mona Lisa immer der Schnurrbart fehlen wird.
Anmerkungen 1 Hubert Fichte, Psyche. Annäherung an die Geisteskranken in Afrika/Geschichte der Empfindlichkeit, Frankfurt/M. 1990, S. 12. 2 Siehe „André Cadere. Peinture sans fin“, Ausstellungskatatalog, Staatliche Kunsthalle Baden Baden, 2007. 3 Bernard Marcelis, „André Cadere. Wege“, in: „André Cadere. Unordnung herstellen”, Ausstellungskatatalog, hg. v. Münchner Kunstverein e. V., Gesellschaft der Freunde der Neuen Galerie, Graz 1996, S. 37. 4 Benjamin H. D. Buchloh, „Von der Ästhetik der Verwaltung zur Institutionellen Kritik“, in: Um 1968. Konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft, Düsseldorf 1990, S. 96. (zit. bei Sabine Breitwieser, Anmerkungen der Herausgeberin zur Schriftenreihe Sammlung Generali Foundation, Art After Conceptual Art, hg. v. Alexander Alberro und Sabeth Buchmann, Wien 2006, S. 9). 5 Bernard Marcelis, „André Cadere. Wege“, a. a. O., bringt im Zusammenhang mit Caderes „parasitärer“ Strategie des Eindringens in institutionelle Kontexte generell die Marginalisiertheit von Künstlern osteuropäischer Herkunft in Paris und New York ins Spiel, was mir etwas widerstrebt. Aber andererseits sehe ich alleine den „Abandonismus“ nicht als individuellen, sondern als kulturellen Zustand an. Man muss nicht von seiner Mutter verlassen worden sein, um Abandoniker zu sein. Aus dem „abandonischen Verhalten“, das laut Germaine Guex’ Studie Züge von Aggression besitzt, wäre so gesehen eine kulturelle Form von Aggression und u. U. Kunst geworden; siehe hierzu Germaine Guex, Le névrose d’abandon, Paris 1950; Charles Odier, L’angoisse et pensée magique, Genf 1946 (Versuch, Piaget und Freud zu verbinden). 6 Und zwar in Form einer Art visueller Kommunikation, die sich in den Kunstrahmen verirrt hat, aus der erstens alles für die Konzeptkunst historisch Konstitutive, also das Biografische, Existenzielle und sogar die Buchloh’sche „aesthetic of administration“ gewichen ist und in der zweitens Design als Repräsentationstechnologie wieder – hinter Graham, Judd, Baldessari zurückfallend – als „Regime“ und kleinbürgerliches Beeindruckungsritual fungieren muss. 7 Bei Immendorff drängt sich ein notorischer Geständnis- und Selbstentblößungszwang in den Vordergrund, wie er so oft die Arbeit an der Form durch (öffentliche) Arbeit am Ich komplementär stützt; siehe hierzu den Ausstellungskatalog „Jörg Immendorff – Zeichnungen 1960 bis 2003“, Museum Kunst Palast, Düsseldorf 2007 (Katalog in Vorbereitung).