Sodom Blogging "Alternative Porn" und ästhetische Empfindsamkeit
Indie-Porn stellt ein derzeit florierendes Subgenre der Pornografie dar, in dem wohl bekannte Looks aus Subkulturen wie Gothic oder Punk oftmals in anti-kommerziellen, feministischen Selbstermächtigungsgesten inszeniert werden. In dieser Hinsicht werden die Konflikte, welche die Debatte um pornografische Obszönität seit den sechziger Jahren prägte, jedoch zugunsten alternativer Sexualästhetiken vermieden - Pornografie verliert so eines ihrer grundlegenden Merkmale. Aber kann es Pornografie jenseits des Öbszonen überhaupt geben?
Der Widerspruch fast aller Pornografie ist ihre Zerstörung des Obszönen. Wie das Schöne für den Klassizismus, das Erhabene für die Schauerromantik und das Hässliche fürs Groteske ist das Obszöne ästhetisches Register des Pornos, seine Aura und sein selling point. Sade erfindet die moderne Pornografie an einer historischen Schwelle von regelpoetischer poiesis und empfindsamer aisthesis in den Kunstlehren. Die "120 jours de Sodome" illustrieren genau diesen clash of cultures: eine Täterriege alter Aristokraten, die ihre Orgien regelpoetisch kombinieren und choreografieren, eine Opferriege junger Bürgerkinder, deren Empfindungen die Ausschweifung als Perversion erst sichtbar machen, und als Resultat eine wechselseitige Eskalation von poiesis und aisthesis, Konstruktion und Empfindung, Maschine und Körper. Vollständig entwickelt sind hier bereits Konzeptualismus und Performance als widerstrebend-komplementäre Pole moderner Kunst, wieder aufgenommen wird ihre pornografisch-maschinelle Verkopplung in Duchamps "Großem Glas" und Schwitters "Merzbau", großbürgerliche Sexmaschinenkonstruktion und kleinbürgerlich-empfindsame "Kathedrale des erotischen Elends".
Dass die pornografische Logik des obszönen Tabus sich nirgendwo konsequenter aufhebt als in der Pornografie selbst, zeigen beispielhaft die Performances von Annie Sprinkle. Als Darstellerin in Siebziger-Jahre-Mainstream-Pornos, die Aktionskünstlerin und "Alternative Porn"-Pionierin wurde, überschreitet sie nicht nur Genre-Grenzen, sondern stellt auch die klassische heterosexuell-pornografische Bildkultur auf den Kopf. Mit ihrer rituellen Einladung ans Publikum, ihr per Spekulum in die Vagina zu blicken, schließt Sprinkle die ikonografische Tradition von Courbets "L'Origine du Monde" (1886) und Duchamps "Étant donnés" (posthum 1968) ab, entschärft dabei jedoch den vormals geilen Blick und treibt, als Aufklärerin im zweifachen Sinn, dem Anblick Tabu und sexuelles Mysterium aus. Wenn die Schriftstellerin Kirsten Fuchs von obszöner "Wucht der Sprache" spricht und ,,in einem Wort wie 'Fotze' [...] viel Kraft" entdeckt, [1] so benennt sie nicht nur das Tabu von Indie-Porno-Diskursen, die diese Wucht entschärfen, sondern auch das Scheitern industrieller Pornografie, sie zu reproduzieren. Sade, dessen systematisch konstruierte Eskalationen so abstumpfen wie jede Mainstream-Pornografie, versucht, das Tabu zu retten, indem er den Exzess bis zur rituellen Tötung treibt, eine im Kern romantisch-sentimentalische Denkfigur, die in den "urban legends" der Performancekunst-Selbstmorde Rudolf Schwarzkoglers und John Fares fortgeschrieben wird und die Genesis P. Orridges im Wettlauf gegen den Zeitgeist stets weitergetriebene Körpermodifikation auch physisch vollzieht.
Die "Exploitation" der Pornozuschauer besteht darin, ihnen Obszönität falsch zu versprechen oder - wie der Gonzo-Porno seit John Staglianos "Buttman"-Serie - sie durch aggressive Penetration und Ausstülpung von Körpern zu simulieren. [2] Genau darin treffen sich jedoch Mainstream- und Independent-Pornografie, Porno-Business und -Aktivismus: Sprinkles Performances sind Gonzo mit feministischem "Empowerment", der die Ausgestülpte wieder zum Subjekt macht. Und jene Independent-Pornografie, die sich seit kurzem und vor allem im Internet als Genre etabliert hat und durch sexuell explizite Autorenfilme wie "9 Songs" und "Shortbus" flankiert wird, kann auch deshalb ohne schlechtes Gewissen diskutiert werden, weil sie "guten" Sex ohne Obszönität darstellt. So löst sich, nach Unterbrechungen durch die feministische Anti-Porno-Debatte der 1980er Jahre, Peter Gorsens Befund einer neovitalistischen Tendenz in zeitgenössischen Sexualästhetiken ein, die das Programm der Lebensreform- und Freikörperbewegung vollenden. [3]
Damit verschwimmen auch die Grenzen pornografischer Ausbeutung subkulturell-experimentalkünstlerischer Codes einerseits sowie subkultureller Aneignung pornografischer Codes andererseits. Die australische Pornoholding gmbill.com betreibt mit dem "Project ISM" auf ishotmyself.com eine Website als simuliertes Konzeptkunstprojekt von Frauen, die sich selbst fotografieren, und mit beautifulagony.com eine - erotisch durchaus gelungene - Website mit Videos, die allein Großaufnahmen der Gesichter von Männern und Frauen bei Sex und Orgasmus zeigen und somit das Konzept von Andy Warhols "Blow Job"-Film serialisieren, in rekursiver Anwendung von Warhols Ästhetik auf sich selbst. Scheinbar fließend gehen Milieus, Rollen und Interessen von Kunst und Kommerz, Künstlern und Sexarbeitern, Sexindustrie und Kulturkritik ineinander über: Fotomodelle und Sexperformerinnen auf suicidegirls.com oder abbywinters.com diskutieren über feministische Literaturseminare, die Künstlerin Dahlia Schweitzer ist zugleich Electropunk-Sängerin, Buchautorin, Ex-Callgirl, Fotokünstlerin und eigenes Aktmodell mit College-Abschluss in Women's Studies, während umgekehrt sich die Geisteswissenschaften in Gestalt von Porn Studies und den jüngsten "Netporn"- und "Post Porn Politics"-Konferenzen dem Gebiet in teilnehmender Beobachtung annähern.
Dies geschieht um den Preis der Konfliktvermeidung. Ob als Provokation, Ausdruck der Macht des Sex oder von Geschlechterpolitik - es war das nunmehr liquidierte Obszöne, das die Schnittpunkte experimenteller Künste und gewerblicher Pornografie markierte, bei Courbet und Duchamp, in Batailles Romanen, Hans Bellmers Puppen, dem Wiener Aktionismus, Carolee Schneemanns "Meat Joy", aber auch bei später zu Kunstehren gekommenen Pornografen wie den Fotografen Nobuyoshi Araki und Irving Klaw, dem Fetish-Comiczeichner Eric Stanton und den Sexploitation-Filmern Russ Meyer, Doris Wishman, (dem von Aïda Ruilova auf der letzten Berlin-Biennale gewürdigten) Jean Rollin und Jess Franco. [4] Obszön in diesen Konstellationen sind Fetische, die zu Tauschobjekten zwischen Porno- und Undergroundkultur werden. In seinen Überblendungen von Biker-, lederschwuler S/M-Kultur, Satanismus und faschistischer Ikonografie spielt Kenneth Angers Experimentalfilm "Scorpio Rising" 1964 diese Tauschgeschäfte beispielhaft durch. Zurück in Jugendkulturen kopieren sie ein Jahrzehnt später Genesis P. Orridges und Cosey Fanny Tuttis pornografische Performancegruppe COUM Transmissions, aus der die Band Throbbing Gristle und die Industrial Music hervorgeht, sowie die Punk-Mode, die Vivienne Westwood in ihrer Londoner Boutique "SEX" aus Bondage- und Fetisch-Accessoires collagiert.
McLarens und Westwoods Punk ist negativ gewendete bürgerliche Empfindsamkeitskultur, die die Register des Hässlichen, des Ekels und des Obszönen gegen das Schöne ästhetisch in Stellung bringt. Umso weniger verwundert es, dass er in seiner späteren, nicht minder bürgerlichen Mutation zur Autonomenkultur besetzter Häuser, Wagenburgen und Kulturzentren nunmehr ein anderes, "alternatives" Schönes für sich reklamierte. In derselben Logik wandeln sich, von den Sexbühnenshows der frühen Hardcore-Punkband Plasmatics mit der Frontfrau Wendy O. Williams, einer Ex-Stripperin und Pornodarstellerin, und später der Punk-/Metal-Frauenband Rockbitch bis zum vermeintlich punkkulturellen "Indie Porn" im Internet, die Konnotationen der Fetische vom Obszönen zum Anti-Obszönen. Spezialisierte Pornowebsites etablieren in den 1990er Jahren "Gothic Porn" als Genre, mit ansonsten konventionellen Pornobildern und -videos von Frauen im Dark-Wave-Look. Aus ihrem Umfeld geht 2001 "Suicide Girls" hervor, die erste erfolgreiche kommerzielle Indie-Porn-Website. [5]
Doch im linksradikalen Alternativgewand verleugnete Punk seine fetischistischen Wurzeln oder zeigte vielmehr seine Kehrseite, die Spike Lees Film "Summer of Sam" bereits für die späten 1970er Jahre mit ihrer Konkurrenz von Punk und Disco nachzeichnet und in der die Punkkultur - männlich, weiß und heterosexuell dominiert - ihre Ressentiments gegenüber der polysexuellen, schwul geprägten und multiethnischen Discokultur pflegte. Der abschätzige Refrain "Samstag Nacht, Discozeit/ Girls Girls Girls zum Ficken bereit" der deutschen Polit-Punkband Slime drückte 1981 eine Haltung aus, die sich sechs Jahre später und auf dem Höhepunkt der feministischen "PorNo"-Kampagne im Berliner Eiszeit-Kino gewalttätig entlud, als ein autonomes Rollkommando eine Vorführung von Richard Kerns und Lydia Lunchs Underground-Pornofilm "Fingered" stürmte. Selbst heute noch arbeiten sich Pornografie-Diskussionen an diesem Konflikt ab, wenn auch weniger ausdrücklich. Proklamationen alternativer pornografischer Kultur und Imagination sind immer auch, und nach wie vor, Stellungnahmen gegen Anti-Porno-Feminismus. Und neben kommerziellen Gothic-Porno-Seiten hat die Indie-Pornografie ihre Ursprünge in jenem "sex-positive feminism", der von Susie Bright, Diana Cage und anderen als Gegenbewegung zur PorNo-Kampagne Andrea Dworkins, Catharine MacKinnons und, hierzulande, Alice Schwarzers gegründet wurde und der zum Beispiel in der lesbischen Zeitschrift On Our Backs, im Jahrbuch "Das heimliche Auge" des deutschen Konkursbuch-Verlags und auf der Website Nerve.com eine feministisch reflektierte, "andere" Pornografie nicht nur diskutierte, sondern auch praktisch schuf.
Beide feministische Tendenzen, Anti- und Pro-Porno, unterscheiden sich zwar in ihrer Therapie, nicht aber in der Diagnose, dass Mainstream-Pornografie sexistisch und abstoßend sei. [6] Übersehen wird dabei vor allem in Europa, dass Dworkin und MacKinnon mitnichten Verbot oder Zensur von Pornografie forderten. [7] Vielmehr würdigt ihre Kampagne die Macht des Sex und der obszönen Imagination - jene Macht, die in praktisch sämtlichen Varianten alternativer Pornografie zum folgenlosen Spiel verharmlost, rationalisiert und verdrängt wird. An die Stelle einer Rhetorik des Künstlichen in der klassischen Mainstream-Pornografie - künstlicher Körperteile, steriler Studios, hölzernen Schauspiels - tritt in der Indie-Pornografie eine Rhetorik des Authentischen: Statt maskenhafter Normierung von Körpern durch Make-up, Perücken und Implantate wird die authentische Person bloßgestellt und, im Vergleich zum Gonzo, nicht mehr physisch, sondern psychisch ausgestülpt. Indie-Porno-Websites, wie sie die Seite indienudes.com umfassend verlinkt, emulieren nicht mehr die Cover-Ästhetik von Pornovideos und -heften, sondern haben auf ein Standardformat von Tagebüchern, Blogs und Diskussionsforen umgestellt, auf dem Nutzer mit Fotomodellen und Fotomodelle untereinander kommunizieren, in einem rationalisierten Diskurs vermeintlichen gegenseitigen Respekts bei simultaner totaler "authentischer" Zurschaustellung der privaten Person, in genau jener Logik, die Foucault für die Entwicklung des Strafvollzugs von der physischen Verstümmelung bis zum Psychoterror des modernen panoptischen Gefängnisses nachzeichnet.
In dieser Personalisierung und Psychologisierung vollzieht Indie-Porno den nächsten logischen Schritt einer fortschreitenden Demaskierung pornografischer Akteure, der mit der (im Film "Boogie Nights" episch nacherzählten) Umstellung von 35-mm-Pornokinofilmen auf billiges Video in den 1980er Jahren begann, sich im Gonzo-Analporno fortsetzte und in der Internet-Pornografie kulminiert. Der Gonzo-Porno ist insofern sogar subversiver und transgressiver als Indie-Pornografie, als er schwules Begehren im heterosexuellen Mainstream unterschwellig bedient und etabliert: analer Barebacker-Sex, drag-queen-artig gestylte Frauen und - im Gegensatz zu den meisten Pornos der 1970er und 1980er Jahre - offensiv sexualisierte männliche Stars wie Rocco Siffredi im Fokus der Kamera. Was im Gonzo -als radikale poiesis und proletkulturelle "Jackass"-Körperperformance inszeniert wird, wandelt sich im Indie-Porno zur empfindsamen Beichte mit dem zahlenden Publikum als voyeuristischen Beichtvätern, bei ständiger Vergewisserung der bürgerlichen Normalität und, unabhängig vom Härtegrad, spielerischen Harmlosigkeit des gezeigten Sex.
So, wie Indie-Pop nur eine Scheinalternative zum musikindustriellen Mainstream ist und in Wahrheit auf demselben Geschäftsmodell basiert, das durch immer absurdere Urheberrechtsgesetze, Verhinderungstechnik, Abmahnungen und Hausdurchsuchungen abgesichert wird, ist auch Indie-Porno mitnichten "unabhängig", sondern kommerzialisiert und von freien Kanälen abgeschottet, ja sogar strategisch gegen diese positioniert: Gerade weil Mainstreamware problemlos in Peer-to-Peer-Tauschbörsen zu haben ist, wird Pornografie, wie Popmusik, nur noch durch Differenz verkaufbar, einschließlich jener zu sich selbst.
Anmerkungen:
[1] | "Sex ist das Spiel der Erwachsenen", Interview im Tagesspiegel, 2. 7. 2006 |
[2] | Vgl. Mark Terkessidis, "Wie weit kannst du gehen?", in: Die Tageszeitung, 18. 8. 2006. |
[3] | Peter Gorsen, Sexualästhetik, Reinbek 1987, S. 481 ff. |
[4] | Porno und Kunst verschmelzen bei Otto Muehl, dessen formelhaft sexistisch-voyeuristische Materialaktionen einerseits Logik und Bildsprache des Mainstream- und Scat-Fetischpornos vorwegnahmen und der andererseits an den Sexploitation-Filmen "Schamlos" (1968) und "Wunderland der Liebe - Der große deutsche Sexreport" (1970) mitwirkte; einen ähnlichen Weg beschritt 1981 der Schlagersänger und spätere Sexguru Christian Anders mit seinem Film "Die Todesgöttin des Liebescamps". |
[5] | Weniger bekannt ist, dass der Hustler-Verleger Larry Flynt mit "Rage" bereits 1997 ein Pornomagazin im "Alternative Pop"-Stil in Fotos, Typografie und Texten auf den Markt gebracht, aber kurz darauf wieder eingestellt hatte. Heute arbeitet Joanna Angel, Betreiberin der Indieporno-Website burningangel.com, für Flynts "Hustler Video". |
[6] | Oder sie schließen sich, wie in Catherine Breillats Filmen, zur Synthese kurz, dass Sexualität zwar per se sexistisch sei, daraus jedoch abgründiger Lustgewinn erzielt werden könne. 7. Siehe dazu Barbara Vinkens Vorwort zu Drucilla Cornell, Die Versuchung der Pornographie, Frankfurt/M. 1997. |
[7] | Siehe dazu Barbara Vinkens Vorwort zu Drucilla Cornell, Die Versuchung der Pornographie, Frankfurt/M. 1997. |