'Zitieren', Sagen die Kabylen, 'Ist Wiederbeleben.' - Pierre Bourdieu †
Ich sitze an einem Schreibtisch im Collège de France, in einem Raum, der nur wenige Türen von dem Büro entfernt ist, das Pierre Bourdieu belegt hat. Ich bin durch die Vermittlung von Inès Champey hierher gekommen; Inès hatte zu seinen Lebzeiten oft die Rolle einer Kontaktperson zu Bourdieu gespielt. (Bourdieu war der einzige, dem ich meine Arbeit jemals unaufgefordert zugeschickt habe, aber selbst, als er sich dann bei mir meldete, scheute ich mich, ihn zurückzurufen.) Marie-Christine Rivière, über viele Jahrzehnte Bourdieus Sekretärin, kam liebenswürdigerweise meinem Wunsch entgegen, noch einmal englische Übersetzungen seiner Bücher einzusehen. Inès meinte, hier würde ich sie am leichtesten finden. Ich versuche jetzt schon seit mehr als sechs Wochen, diesen kurzen Text zu schreiben. Ich würde meine Schwierigkeiten gerne auf die Tatsache schieben, dass ich auf Reisen bin und deshalb nicht an meine Bücher komme. Doch liegt die schmerzliche Ironie für mich in der Aufgabe, einen erinnernden Essay über Bourdieu zu schreiben, da das zu einer Prüfung darüber wird, inwieweit ich seine Arbeit nicht nur verstanden, sondern auch erfolgreich verinnerlicht habe.
Ich konnte keine Beispiele für Nachrufe finden, die Bourdieu selbst verfasst hat. Ich blättere durch die Essays in der Textsammlung "Language and Symbolic Power". Ich wüsste gern, ob er den Nachruf zu den "institutionellen Riten" zählte, die seiner Meinung nach nur dazu dienen, willkürliche Unterschiede zu verbürgen - etwa den Unterschied zwischen einem bedeutenden und einem unbedeutenden Leben. An Bourdieus Bedeutung für mein eigenes Leben ist jedoch nichts willkürlich. Ich blättere durch "Entwurf einer Theorie der Praxis", um herauszufinden, ob er im Nachruf den Austausch innerhalb einer symbolischen Ökonomie gesehen hat, in der Schuld als Anerkennung zurückgezahlt wird. Von der Sprache der Ehrungen und den Leistungen großer Männer bin ich ohnehin ausgeschlossen. Ich blättere in "Praktische Vernunft" und frage mich, ob er den Nachruf als eine Form der Produktion symbolischen Kapitals betrachtet hat, die die Wahrnehmung bestimmter Eigenschaften durch Klassifizierungsmodi strukturiert, die durch das Feld hervorgebracht werden, das diese Eigenschaften erst als legitimen Einsatz bestimmt. Oder könnte er den Nachruf als eine Gelegenheit zur Einübung einer "Realpolitik der Vernunft" betrachtet haben, die das symbolische Kapital, das im kulturellen Feld angehäuft wird, in den Dienst des Kampfes gegen die symbolische Herrschaft zwingt?
Vielleicht hätte er einfach nur gesagt, wie er es in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Ernst-Bloch-Preises getan hat, dass die vielen Lobreden, die über ihn geschrieben wurden, "wirklich zu großzügig" seien, da sie allein seiner individuellen Person jene Eigenschaften und Qualitäten zuschreiben würden, die eigentlich das Produkt sozialer Bedingungen sind.
Nein, ich werde ihn jetzt nicht hintergehen, indem ich ihm Ehre erweise. Nein, ich werde ihn jetzt nicht hintergehen, indem ich es unterlasse, ihm Ehre zu erweisen.
Als ich in Paris ankam, hat mir Inès Dutzende von Nachrufen gezeigt, die in Frankreich erschienen waren. Im Collège de France findet im Nachbarraum gerade eine Versammlung von Kollegen und Mitarbeitern Bourdieus statt, und mir wird schlagartig klar, was für ein Zufall es ist, dass ausgerechnet ich, deren Kenntnisse seiner Arbeit so zufällig sind, nun diesen Text über Bourdieu schreiben soll. Ich weiß kaum mehr als aus zweiter Hand von der Wirkung seiner aktivistischen Betätigungen in den letzten zehn Jahren. Ich bin weder Soziologin noch Ethnografin noch Philosophin. Ich kann seine Forschungen und Theorien nicht in ihrem intellektuellen Kontext bewerten. Also sitze ich hier und stelle fest, dass ich mich auf die Erzählung in der ersten Person zurückziehe (womit ich das Risiko eingehe, eine Erfahrung zu individualisieren, die, wie Bourdieu es mit Bachelard gesagt haben würde, nur ein "bestimmter Moment des Möglichen" ist). Theoretische Überblicke und künstlerische Anwendungen müssen also warten. Die Werkzeuge der Universalisierung stehen mir nicht zur Verfügung. Ich sitze hier und fühle mich wieder auf den Status einer Studienabbrecherin zurückgeworfen, die ihr Versagen mit der hoffnungslosen Bemühung kompensiert, wie verrückt Buchläden zu durchkämmen, ohne Ordnung und Plan. Was ich über seine Arbeit weiß, deckt sich mit Bourdieus Beschreibung des Autodidakten und seines Wissens (ich suche in einer geliehenen Ausgabe von "Die feinen Unterschiede" nach der entsprechenden Passage): Es ist nicht mehr als eine Kette "loser Perlen, die er bei seinem vereinzelten Lernen ohne Kenntnis der institutionell genormten Etappen und Hindernisse (...) angehäuft hat" und "die nur der biographische Zufall miteinander verbindet."
Auf Bourdieu zu stoßen, war für mich ein solcher Zufall. Wäre ich dem Lehrplan gefolgt, hätte ich "Die feinen Unterschiede" nicht gekauft, da Bourdieu auf keiner der Literaturlisten stand, die mir während des Kunststudiums Mitte der achtziger Jahre gegeben wurden, obwohl sie ansonsten stark von französischer Nachkriegstheorie geprägt waren. Ich war sehr jung. Seine Arbeit wurde mir zur zweiten Sprache.
Bourdieu schreibt: "Es ist (...) nicht paradox, im Verhältnis des Autodidakten zur Bildung und im Autodidakten selber Produkte des Ausbildungssystems zu erblicken, das allein ermächtigt ist, den hierarchisierten Korpus von Fähigkeiten und Wissen zu übertragen, aus dem die legitime Bildung besteht, und durch Examen und Titelverleihung das Erreichen einer bestimmten Initiationsstufe zu krönen." Und er fährt fort: "Vor allem aber kennt der Autodidakt, dieses Opfer seines Mangels an schulisch verbrieftem Wissen, nicht das von den Diplomen verliehene Recht, nicht Bescheid zu wissen."
Mich hier am Collège de France aufzuhalten, weckt auch die akute Angst, die mich früher befiel, wenn ich mit legitimierter Kultur in Form akademischer Kontexte, gerade in Frankreich, in Museen und Galerien konfrontiert war. Ich habe es Bourdieu zu verdanken, dass ich diese Angst und das Gefühl der Illegitimität (für das er später den Begriff "symbolische Gewalt" benutzte) losgeworden bin, das die legitimierte Kultur hervorruft - als "ein Resultat der Herrschaft, das seinerseits anfällig dafür ist, Herrschaft auszudrücken oder zu legitimieren". Gegen eine Rechtmäßigkeit, die Bourdieu einfach so beschrieben hat: berechtigt, das zu sein, was man ist und für richtig hält. In "Die feinen Unterschiede" hob er diese lähmende Erfahrung der Illegitimität mit befreiender Klarheit hervor: die verstummende und verstümmelnde Gewalt kultureller Urteile, die erdrückende Autorität verbürgter Kompetenz, die Qual, die die Lücke zwischen Wissen und Anerkennung füllt, das Gefühl von Hochstapelei und die Kraft von Wünschen, die von sozial und materiell beschränkten Möglichkeiten entstellt sind.
Aber als ein Produkt von Bourdieus relationaler, reflexiver Soziologie machten es mir "Die feinen Unterschiede" auch unmöglich, mir unter symbolischer Herrschaft allein etwas vorzustellen, das irgendwo draußen existiert, in bestimmten, fest gefügten Institutionen oder Individuen, kulturellen Formen oder Praktiken, die mir, so jung und machtlos ich mich auch gefühlt haben mag, als gesellschaftlichem Vertreter oder Künstler nur äußerlich gewesen wären.
"Reflexive Analyse", sagt Bourdieu in "Reflexive Anthropologie", "lehrt uns, dass wir es sind, die der Situation einen Teil der Macht verleihen, die sie über uns hat." Sie erlaube es uns, zurückzutreten und die Determinismen zu überschauen, "die durch das Verhältnis unmittelbarer Komplizität zwischen Positionen und Dispositionen funktionieren", zwischen dem sozialen Feld, in dem wir leben und den verinnerlichten Formen der Wahrnehmung und Anerkennung, der Klassifikation und Hierarchisierung, von Interesse und Praxis, die auf jenen Feldern erzeugt werden, die er Habitus nannte.
Bourdieu hat häufig betont, dass es eines der Ziele seiner Arbeit sei, einen Habitus zu produzieren, der sich, "als Folge praktischer Logik", zu reflexivem Handeln disponiert. Wenn für Bourdieu Reflexivität zunächst die Bedingung für eine mögliche Befreiung von symbolischer Herrschaft war, so war sie für ihn vor allem aber auch eine Bedingung jeder Sozialwissenschaft, indem sie sich zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und theoretischer Entstellung positioniert, die sonst zum Umkippen in konservative Lehrsätze neigt.
Bourdieu definierte reflexive Methodologie als die volle Objektivierung - nicht nur eines Gegenstandes, sondern der Beziehung zu diesem Gegenstand, einschließlich der Wahrnehmungs- und Klassifikationsmuster, die nicht nur das eigene Interesse an der Objektivierung bestimmen, sondern auch die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Möglichkeit. Das Prinzip der Reflexivität schien jede letzte Wendung in Bourdieus Praxis zu bestimmen: die Entscheidung, während des Algerienkriegs ethnografische Feldforschung in Algerien zu betreiben, in der er bereits das "praktische Privileg" des Beobachters kritisierte, die ethnografische Studie über seine französische Heimatstadt, dann, in "Die feinen Unterschiede", die über ganz Frankreich, in "Homo Academicus", "La noblesse d'État" und "Die männliche Herrschaft" Arbeiten über die Produktion und Ausbeutung gerade jener Kapitalformen, an denen er als anerkannter Intellektueller selbst teilhatte. Schließlich zeigte sich seine Reflexivität auch darin, dass er in seiner aktivistischen Tätigkeit unentwegt auf die grundlegende und oft unbewusste Komplizenschaft zu sprechen kam, die zwischen den zunehmend heteronomen Intellektuellen und einer neoliberalen "Theodizee der Kompetenz" besteht.
Einer der wichtigsten Aspekte in Bourdieus Analyse des kulturellen Feldes (einschließlich ihrer Unterfelder Kunst, Geistes- und Naturwissenschaft usw.) war aber seine Bestimmung der dominierten Position in einem dominierenden Feld, das er auch das Feld der Macht nannte. Er sah in unserer Erfahrung, "beherrschte Fraktion einer herrschenden Fraktion" zu sein, eine Grundbedingung der Ambivalenz von Künstlern und Intellektuellen, und er glaubte, dass diese Ähnlichkeit der Verhältnisse mit denen der beherrschten Klassen die Basis für unsere Politisierung werden könnte. Aber in unserer Absicht, eine relativ gehobene Position aufrechtzuerhalten und zu verbessern, die selbst noch unseren Kämpfen gegen das Herrschende anzumerken ist, neigen wir dazu, die Bedingungen der Herrschaft zu reproduzieren, sowohl unserer eigenen wie die der anderen. Wie Bourdieu in "Die feinen Unterschiede" geschrieben hat, hat man "die Wahl, entweder die Komplizität hervorzuheben, durch die sie in Feindschaft vereint sind, oder die Feindschaft, die sie im Zustande der Komplizität voneinander trennt." Aber es sind gerade die strukturellen Ähnlichkeiten, die zwischen den Besitzern des kulturellen und denen des ökonomischen und politischen Kapitals im Feld der Macht bestehen, die Künstlern und Intellektuellen materiell und symbolisch ihren Platz innerhalb der "Abteilungen der Herrschaftsarbeit" zuweisen, Ähnlichkeiten, deren politische Selbsterklärungen nicht selten zur Maskerade werden.
Diese strukturelle Ambivalenz des kulturellen Feldes macht eine reflexive kulturelle Praxis nötig. Gemäß unserer Position "als Beherrschte unter Herrschenden" fordert die reflexive Analyse von einer kulturellen Praxis nicht nur eine politische Fundierung. Sie fordert, um einen Begriff einzuführen, den Bourdieu nur sehr selten und mit Vorsicht benutzte, eine Ethik als Grenze, die der Ausbeutung von Machtformen gesetzt wird, unter der wir subjektiv zwar nicht unbedingt leiden müssen, die wir als Besitzer eines relativen Monopols über Formen gesellschaftlich und institutionell anerkannter Kompetenz aber trotzdem objektiv hervorbringen.
Mehr als seine überzeugenden Befunde zum kulturellen Feld (und mei-ner Erfahrungen in ihm) war es Bourdieus Reflexivität, die aus mir eine "Bourdieuanerin" gemacht hat. Als Künstlerin stellte ich sofort eine Übereinstimmung zwischen seiner soziologischen Methode und ortsspezifischer Institutionskritik fest, die sich in meinen Augen nur durch unterschiedliche Mittel und Felder unterschied. Und obwohl ich nie in der Lage war, die wissenschaftlichen Ansprüche in Bourdieus Arbeit zu beurteilen, sehe ich in seiner Reflexivität eine Wahrheitsbedingung jeder kritischen Praxis. Sie ist das, was wirklich zwischen Kritik, Intervention, einer möglichen Veränderung und der Reproduktion von Dominanzbeziehungen vermittelt, die sich im kulturellen Feld nicht weniger ausdrücken und legitimiert werden wie in jedem anderen. Wenn wir als Künstler und Intellektuelle unsere historisch erworbenen Freiheiten ausüben, indem wir "der Macht die Wahrheit sagen", dann sollten wir zuallererst über die Wahrheit unserer eigenen Macht sprechen. Jede andere kritische Praxis oder Theorie ist schlicht und einfach Arglist. Bourdieu hat nicht nur die Mittel zur Verfügung gestellt, um diese Wahrheit zu verstehen, sondern er hat auch beispielhafte Handlungsformen vorgegeben. Kulturelle Felder verleihen eine außerordentliche Autonomie, hat er einmal irgendwo geschrieben, vor allem dann, wenn man sie nicht als eine Waffe gegen andere oder als Mittel zur Verteidigung einsetzt, sondern sie benutzt, um die eigene Wachsamkeit zu erhöhen.
Ich greife nach "Sozialer Raum und ‚Klassen'", Bourdieus Antrittsvorlesung am Collège de France. Sie beginnt wie folgt: "Eine Vorlesung - und sei sie inaugural - sollte man halten können, ohne sich fragen zu müssen, mit welchem Recht dies geschieht: die Institution ist dafür da, diese Frage abzuwenden wie auch die Beklemmung, die mit dem Charakter von Willkür und Beliebigkeit, der in allem Anfang sich in Erinnerung ruft, notwendig einhergeht." Damit entfernte sich Bourdieu sehr weit von den Möglichkeiten der Protektion, der Bürgschaft und der Rechtfertigung, die kulturell legitimierte Institutionen zu bieten haben. Und in dieser Entfernung hat er die einzige Öffnung geschaffen, durch die ich mir die Möglichkeit eines Zugangs vorstellen kann.
(Übersetzung: Manfred Hermes)